Die vorliegende "Ratio Fundamentalis" erinnert daran, dass die kirchlichen Berufungen stets Gaben für die Kirche sind, die "besonders beachtet und mit höchster Aufmerksamkeit und mit höchstem Eifer gepflegt werden" müssen, damit sie sich entfalten und reifen können. Papst Franziskus hat hierzu bei der Vollversammlung der Kongregation für den Klerus im Jahre 2014 das Bild des Rohdiamanten benutzt. Die Berufungen sind wie ein "Rohdiamant", der mit "Sorgfalt, Achtung vor dem Gewissen der Personen und Geduld" bearbeitet werden muss, damit dieser für das Gottesvolk und inmitten des Gottesvolkes erstrahlen kann.
Direkt zu Beginn der Ratio wird die Notwendigkeit einer fundierten Berufungspastoral erwähnt, die der Begleitung der Jugendlichen und nun vor allem auch der Spätberufenen als auch der Migranten ihre Aufmerksamkeit widmen soll.
Hiernach beginnt die Ratio Fundamentalis sowohl die Inhalte als auch die Methoden und die Leitgedanken der bisherigen Ausbildung aufzunehmen und mit neuen Elementen zu aktualisieren.
Eine ganzheitliche Ausbildung
Es wird deutlich, dass dieses Schreiben die Priesterausbildung als eine ganzheitliche Ausbildung sieht, die davon ausgeht, dass der Weg zum priesterlichen Dienst (den letztendlich der Gerufene mit Gott geht) individuell bleibt und nur graduell verlaufen kann. Es gibt auf diesem Weg verschiedene Phasen und Etappen und jede Phase hat ihre Bedeutung im Reifungsprozess. Zu den schon aus älteren Verlautbarungen bekannten Ausbildungsphasen "Phase der philosophischen Studien", "Phase der theologischen Studien" und "pastorale Phase" sind nun folgende Erweiterungen hinzugefügt worden: "Phase der Jüngerschaft”, "Phase der Gleichgestaltung” und "Phase der Berufungssynthese”. All diese Phasen haben nur ein Ziel: der Kandidat soll seine intellektuellen Kompetenzen schulen und vor allem menschlich, spirituell und pastoral reifen, um immer mehr Christus dem Guten Hirten gleichgestaltet zu werden.
Die menschliche, spirituelle, intellektuelle und pastorale Dimension sollen in ausgeglichener Weise miteinander vereint werden, und doch ist es an bestimmten Stellen auffällig, dass die Ratio vor allem die menschliche Dimension in besonderer Weise betont. Den Verantwortlichen der Ausbildung wird eine sorgfältige Prüfung und Auswahl der Kandidaten ganz besonders ans Herz gelegt und die Wichtigkeit eines guten Propädeutikums (verpflichtende Vorbereitungsveranstaltung für Priesterkandidaten) ausdrücklich betont. Hier schlagen sich grundlegende Themen des Pontifikats von Papst Franziskus nieder, wenn beispielsweise von priesterlichen Versuchungen wie Reichtum, die eigene Geltungssucht und Machtmissbrauch oder eine legalistische Unbeweglichkeit zur Sprache gebracht werden.
Die vorliegende Ratio Fundamentalis ist hier mit praktischen Hinweisen und Aufzählungen durchdrungen. An verschiedenen Stellen zeigt sie eine realistische Sichtweise auf die Welt und auch auf die Kirche, wenn sie einerseits Erfahrungen und Gefahren in der Ausbildung und im späteren priesterlichen Dienst aufzählt (z.B. die Erfahrung der eigenen Schwäche, die Herausforderung durch die zeitgenössische Kultur, die Herausforderung des Zölibats und die Müdigkeit aufgrund von Überforderung), aber andererseits auch klare Handlungsempfehlungen und -anweisungen hierzu vorschlägt (u.a. die vita communis in verschiedenen Abstufungen). Die Organisation der Studien und die Kriterien und Normen zur Aufnahme, Entlassung und Verlassen des Seminars runden die Ratio ab. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dieses Schreiben den Schutz der Minderjährigen und die Begleitung der Opfer besonders hervorhebt, wenn es hier heißt, dass die Verantwortlichen der Priesterausbildung dem "Thema des Schutzes der Minderjährigen und der Erwachsenen mit Behinderung" in Zusammenarbeit mit der Päpstlichen Kommission für den Schutz Minderjähriger "größter Aufmerksamkeit" zukommen lassen sollen.
Was heißt es nun für unsere Diözese?
Unser Erzbischof hat schon im vergangenen Jahr die Verantwortlichen in der Priesterausbildung und Berufungspastoral an einen Runden Tisch geladen, um verschiedene Themen, die in der Ratio Fundamentalis erwähnt werden, zu bedenken und konkrete Schritte einzuleiten. Dementsprechend sind wir schon seit dem vergangen Wintersemester damit beschäftigt, die propädeutische Phase in unserem Erzbistum zeitlich, inhaltlich und strukturell zu verändern. Der Schutz Minderjähriger und Erwachsene mit Behinderung ist nun schon länger fester Bestandteil der Priesterausbildung und mit einer erhöhten Aufmerksamkeit wird dieses Thema auch immer wieder behandelt.
Die Ratio Fundamentalis fokussiert aber auch einige Themen, die auf unsere Diözese noch übertragen werden müssen. Was bedeuten die Phasen der Jüngerschaft, Gleichgestaltung und Berufungssynthese für die Priesterausbildung in unserem Erzbistum und wie können diese für den pastoralen Zukunftsweg unseres Erzbistums fruchtbar gemacht werden? Wie können Berufungspastoral und Priesterausbildung der Tatsache gerecht werden, dass wir immer mehr Spätberufene in unseren Seminaren vorfinden und wie sieht es hier konkret mit einer individuellen und graduellen Begleitung aus? Welche konkreten Schritte wollen wir künftig angehen, um den veränderten Herausforderungen des priesterlichen Lebens heute gerecht zu werden? Wie kann zum Beispiel das Zusammenleben von Priestern gefördert und umgesetzt werden, wie es die Ratio Fundamentalis u.a. auch empfiehlt?