Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung hat Juden dazu geraten, ihre Kippa nicht überall in Deutschland öffentlich zu zeigen – und Israel regiert bestürzt. "Ich kann Juden nicht empfehlen, jederzeit überall in Deutschland die Kippa zu tragen. Das muss ich leider so sagen", sagte der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Vertreter der jüdischen Gemeinde in Deutschland forderten, der Staat müsse ihren Mitgliedern ein Leben ohne Angst gewährleisten. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) betonte, es sei nicht hinnehmbar, wenn Juden ihren Glauben verstecken müssten.
Bewusst provokantes Statement
2018 war die Zahl antisemitischer Straftaten bundesweit stark gestiegen. Der jüngste Jahresbericht zur politisch motivierten Kriminalität wies 1.799 Fälle aus, 19,6 Prozent mehr als 2017.
Klein sagte der Deutschen Presse-Agentur, er habe mit seiner Aussage aufrütteln wollen. Mit seinem provozierenden Statement habe er bewusst eine Debatte über die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland anstoßen wollen. «Natürlich bin ich der Auffassung, dass es nirgendwo in Deutschland No-Go-Areas für Juden oder Angehörige von anderen Minderheiten geben darf."
Israels Präsident ist schockiert
Israels Staatspräsident Reuven Rivlin reagierte bestürzt auf die Empfehlung des Antisemitismusbeauftragen. Rivlin teilte am Sonntag mit, dieser Rat von Klein habe ihn "zutiefst schockiert". "Die Verantwortung für das Wohl, die Freiheit und das Recht auf Religionsausübung jedes Mitglieds der deutschen jüdischen Gemeinde liegt in den Händen der deutschen Regierung und ihrer Strafverfolgungsbehörden."
Die deutsche Regierung sei zwar der jüdischen Gemeinde verpflichtet, "aber Ängste über die Sicherheit deutscher Juden sind eine Kapitulation vor dem Antisemitismus und ein Eingeständnis, dass Juden auf deutschem Boden wieder nicht sicher sind", sagte Rivlin. Man werde im Angesicht des Antisemitismus nie kapitulieren, "und wir erwarten und fordern von unseren Bündnispartnern, ebenso zu handeln".
Zentralrat der Juden: "Es ist höchste Zeit"
Der Zentralrat der Juden prangerte die wachsende Zahl antisemitischer Bedrohungen und Gewalttaten hierzulande an. "Insgesamt neige ich nicht zum Dramatisieren, doch die Lage hat sich insgesamt wirklich verschlechtert", sagte Verbandspräsident Josef Schuster der "Welt am Sonntag". Das aggressive politische Klima wirke sich aus. "Wir fühlen uns von den Sicherheitsbehörden zwar ausreichend geschützt, aber es wird Zeit, dass sich in der Gesellschaft der Wind wieder dreht."
Zu der Empfehlung Kleins sagte Schuster der Deutschen Presse-Agentur: "Es ist seit längerem eine Tatsache, dass Juden in einigen Großstädten potenziell einer Gefährdung ausgesetzt sind, wenn sie als Juden zu erkennen sind." Darauf habe er bereits vor zwei Jahren hingewiesen, sagte er. "Es ist daher zu begrüßen, wenn diese Situation auch auf höchster politischer Ebene mehr Aufmerksamkeit erfährt." Die Bekämpfung des Antisemitismus müsse sich die ganze Gesellschaft zu eigen machen, betonte er. "Es ist höchste Zeit."
Ist jüdisches Leben in Deutschland ohne Angst nicht möglich?
Der Publizist Michel Friedman bezeichnete die Äußerungen Kleins als Offenbarungseid des Staates. Er sagte der Deutschen Presse-Agentur, der Staat müsse gewährleisten, dass Juden sich überall angstfrei zu erkennen geben können.
Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, rief die Bundesregierung auf, Juden in Deutschland ein Leben ohne Angst zu gewährleisten. "Jüdisches Leben muss in ganz Deutschland ohne Angst möglich sein." Gleichzeitig teilte sie mit: "Die Verunsicherung in der jüdischen Gemeinschaft ist heute groß, und ich kann jeden verstehen, der sich hierzulande nicht öffentlich sichtbar als jüdisch zu erkennen geben will."
Seehofer: Staat ist in der Pflicht
Bundesinnenminister Seehofer nannte es "nicht hinnehmbar", wenn Juden ihren Glauben in Deutschland verstecken müssten. "Der Staat hat zu gewährleisten, dass die freie Religionsausübung ohne Einschränkungen möglich ist."
Klein betonte, Politik und Gesellschaft müssten die Fehlentwicklungen erkennen, auf die er hingewiesen habe, und dürften diese keinesfalls hinnehmen. "Ich möchte, dass wir den Kampf gegen Antisemitismus als Aufgabe für uns alle begreifen." Im März hatte er der "BZ am Sonntag" gesagt: "Hass auf Juden und Israel gehört in einigen Herkunftsländern zur Staatsräson." Das sei eine große Integrationsaufgabe.
NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte im WDR: "Ich kann Jüdinnen und Juden nur ermuntern, sich nicht einschüchtern zu lassen und stattdessen stolz und erhobenen Hauptes durch Deutschland zu gehen – selbstverständlich auch mit Kippa."
EKD-Ratsvorsitzender fordert null Toleranz gegenüber Antisemitismus
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, hat sich in der Kippa-Debatte bestürzt über die zunehmende Gefährdung von Juden geäußert. "Es macht mich unendlich traurig, dass wir in unserem Land überhaupt diese Diskussion führen müssen", sagte er den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). "Und ich schäme mich dafür."
"Die einzig angemessene Reaktion darauf ist null Toleranz gegenüber dummen antisemitischen Sprüchen oder allen anderen Formen von antisemitischen Angriffen auf Juden", sagte Bedford-Strohm. "Und zwar null Toleranz nicht nur seitens des Staates, sondern seitens jedes einzelnen Bürgers." Antisemitismus widerspreche allem, wofür das Christentum stehe.
Die Kippa
Bei der Kippa handelt es sich um eine kreisförmige Kappe aus Stoff oder Leder, die gläubige Juden auf dem Hinterkopf tragen. Im alten Orient galt das Bedecken des Kopfes als Zeichen von Sittsamkeit und Gottesfurcht. Im Unterschied zu Gebetsriemen und Gebetsschal lässt sich das Tragen der Kippa jedoch nicht mit der Tora begründen. Erwähnung in der Bibel findet die Kopfbedeckung im zweiten Buch Mose – dort allerdings als Teil der Bekleidung von Priestern. Erst später erklärten es die Rabbiner für religiöse Laien zur Pflicht, während des Gebets den Kopf zu bedecken. Vermutlich im Mittelalter wurde die Kopfbedeckung jüdischer Männer auch im Alltag üblich.
In jüdischen Gemeinden ist es heute gebräuchlich, dass jüdische Männer während des Gebets, beim Studium religiöser Texte und auf dem Friedhof Kippa tragen. Der Grad der Verbindlichkeit unterscheidet sich jedoch zwischen den Strömungen; liberale Synagogen verzichten hier bisweilen auf Vorgaben. Umgekehrt gibt es Synagogen und Friedhöfe, die erwarten, dass auch nicht-jüdische Männer beim Besuch Kopfbedeckung tragen.
Traditionell bedecken auch jüdische Frauen ihr Haar. Konservative, liberale und säkulare Jüdinnen verzichten darauf im Alltag, jedoch nicht in der Synagoge. Auch manche Frauen greifen hier auf die Kippa zurück.