Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Herrn Steinbichler, warum haben sie "Das Tagebuch der Anne Frank" verfilmt?
Hans Steinbichler (Regisseur): Anne Franks Tagebuch ist ein Weltstoff und exemplarisch für all das, was Krieg und Ausgrenzung anrichten. Das ganz normale Leben eines Mädchens wird geraubt - mir nichts, dir nichts, die Familie geht in den Tod. Mit dieser Geschichte - vor allem als Film - kann man also etwas bewegen.
KNA: Sie sehen einen Gegenwartsbezug?
Steinbichler: Anne steht auch für Flüchtlinge, die mit dem Tod bedroht oder getötet werden. Gerade in der momentanen Flüchtlingsdebatte ist das Thema aktuell. Aber der Film zeigt am Beispiel Annes auch, wie der Mensch heranwächst, wie er sich fühlt und wie er mit Konflikten umgeht. Es gibt kaum Unterschiede dazu, wie wir das selbst erlebt haben oder auch unsere Kinder das machen.
KNA: Wenn es so alltäglich ist, wieso ist dann "Das Tagebuch der Anne Frank" weltweit bekanntgeworden?
Steinbichler: Das Buch ist nie aus der Zeit gefallen - obwohl es bereits vor über 70 Jahren geschrieben wurde. Außerdem betrachtet Anne in ihrem Tagebuch ihre Situation sehr klar und exakt - und das als 14-Jährige. Letztlich ist es die Qualität des Buches, die so modern ist und das Gefühl gibt, dass es ein Text aus dem Jetzt ist. Hinzu kommt sicherlich die Entstehungsgeschichte, ihre Jahre im Versteck und ihre Ermordung, die diesen Text so einzigartig machen.
KNA: Anne Frank war eine Märtyrerin?
Steinbichler: Anne opfert die Reinheit ihrer Gedanken den Umständen in dieser Zeit. Und hat gleichzeitig eine unglaubliche Disziplin, das aufzuschreiben, was passiert. Sie hat in ihrem Tun und Schreiben eine liebevolle, unbestechliche Klarheit.
KNA: Wie wichtig war es für Sie, in dem Film auch das Judentum zu thematisieren?
Steinbichler: Auch wenn die Franks eine jüdische Familie waren, spielt Religion in ihrem Alltag kaum eine Rolle. Es geht ja nicht um eine jüdische Familie, sondern darum, dass eine Familie fliehen muss, da sie umgebracht werden soll. Welche Religion sie haben, ist erst einmal nicht zentral.
KNA: Wie schwer ist es für einen deutschen Regisseur, einen Film über die NS-Zeit zu drehen?
Steinbichler: Mich machte es sehr betroffen, als ich bemerkte, wie theoretisch unser Blick auf die Verarbeitung der NS-Zeit ist: Man hat es im Geschichtsunterricht behandelt, viele waren in Auschwitz, wir haben Bücher gelesen,... Man hat das Gefühl, dass man seine Hausaufgaben gemacht hat. Durch den Filmdreh habe ich jedoch bemerkt, wie nahe die Thematik immer noch ist. Denn auch meine Großeltern waren Mitläufer in diesem System. Es waren nicht nur die Nationalsozialisten, die die Menschen getötet haben - es waren alle Deutschen.
KNA: Hat das auch Auswirkungen auf sie persönlich?
Steinbichler: Ich bin durch meine Zugehörigkeit zum deutschen Volk selbst mit belastet. Es ist ein irrsinniger Prozess, zu verstehen, dass ich nicht außen vor stehe, sondern mitten drin bin, während ich den Film machte. Ich bin jemand aus dem Tätervolk.
KNA: Hindert dieser persönliche Zugang an der filmischen Arbeit?
Steinbichler: Für mich macht es das leichter. Je mehr man darin selbst verwickelt ist, desto besser ist der Zugang, den man dazu hat. So kann man auch dieses Maximum an Entwürdigung darstellen. Es bleibt kein untauglicher Versuch, den Holocaust nachzustellen.
KNA: Wieso spielt der Verrat an den Franks im Film keine Rolle?
Steinbichler: Man muss sich klar machen, dass der Fund des Verstecks die Folge einer sich zuziehenden Schlinge durch die Deutschen in Amsterdam war. Die Systematik, mit der die Deutschen Amsterdam "entjudet" haben, war sehr rabiat. Man weiß nicht genau, wer die Franks tatsächlich verraten hat. Aber die Tatsache, dass sie verraten wurden, macht die Ungeheuerlichkeit dieses verbrecherischen System deutlich. Drei Wochen mehr hätte den Franks genügt, um am Leben zu bleiben - aber dieses Beamtentum der Nazis war gnadenlos. Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.