KNA: Was ist im Reichskonkordat eigentlich geregelt?
Jan H. Wille (Historiker an der Universität Hamburg, promovierte über eine mögliche Reform des Reichskonkordats): Das Reichskonkordat ist thematisch sehr umfassend. Seine 34 Artikel erkennen die Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts an, regeln Eigentums- und Finanzfragen sowie ihre Aufgaben im Bildungswesen und in der Seelsorge.
KNA: Können Sie das an einem Beispiel etwas konkreter machen?
Wille: Das Reichskonkordat garantiert zum Beispiel das Recht der Kirche, sogenannte Bekenntnisschulen auf Wunsch der Eltern einzurichten, also Volksschulen, die katholisch geprägt sind. Die sind heute nicht mehr besonders verbreitet, waren aber in den 1950er Jahren häufig anzutreffen.
KNA: Vielleicht noch ein weiteres Beispiel?
Wille: Ein anderes Beispiel ist der Treueeid. Wenn ein neuer Bischof ein Bistum übernimmt, muss er laut dem Reichskonkordat beim Staat einen Eid leisten, dass er das Grundgesetz achtet. Das wird heute beispielsweise in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen noch gemacht, in der Regel vor dem zuständigen Ministerpräsidenten.
KNA: Unterläuft das Konkordat nicht die Trennung von Staat und Kirche?
Wille: Im Gegensatz zu Trennungsmodellen, wie in den USA oder Frankreich, oder auch Staatskirchen, wie in Großbritannien und Dänemark, hat sich in Deutschland ein vertragsrechtliches Kooperationsmodell zwischen Staat und Kirche entwickelt. Man setzt sich gemeinsam an einen Tisch und redet miteinander. Ich halte das für ein sehr demokratisches Instrument.
KNA: Es ist umstritten, wem der Vertrag bei seinem Abschluss mehr nützte - den Nazis oder der Kirche. Wie würden Sie das beurteilen?
Wille: Die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. In der Forschung wurde lange diskutiert, welche Rolle der Vatikan und die deutschen Bischöfe bei den Verhandlungen spielten. Ein Problem ist, dass getauscht wurde, um dieses Konkordat auf die Beine zu stellen.
Die Kirche hat sich dazu verpflichtet, dass sich der Klerus in Deutschland nicht mehr politisch engagiert. Im Gegenzug wurden die katholischen Volksschulen und Vereine offiziell geschützt.
KNA: Wem nützte das also mehr?
Wille: Für die Nationalsozialisten war das Reichskonkordat ein enormer Prestigeerfolg. Von vielen Zeitgenossen wurde es so wahrgenommen, als ob es einen Schulterschluss zwischen dem Papst und Hitler gäbe. Für die Kirche erwies sich der Vertrag in vielen Punkten schnell als leere Versprechung. Das Regime deutete entweder viele Vereinbarungen zu eigenen Gunsten um oder brach sie schlicht. Zwar hat das Reichskonkordat sicherlich dazu beigetragen, dass die Institution katholische Kirche während der Nazi-Zeit weiterbestehen konnte. Der eigentlich vereinbarte Schutz für einzelne Geistliche oder kirchliche Verbände wurde jedoch nicht gewährt.
KNA: Ist es nicht skandalös, dass ein von den Nazis geschlossener Vertrag in der Bundesrepublik immer noch in Kraft ist?
Wille: Nicht unbedingt. Der Abschluss des Reichskonkordats wäre zwar ohne die Nazis nicht möglich gewesen. Allerdings gibt es keine klassische nationalsozialistische Färbung des Vertragstextes, wie zum Beispiel eine Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. An der Frage, ob es ein Nazi-Vertrag ist, oder nicht, sollte sich nicht die Kritik entzünden. Die Frage muss eher lauten, welche staatskirchenrechtliche Relevanz dieser Vertrag noch hat.
KNA: Welche Relevanz hat er denn noch?
Wille: Das Reichskonkordat hat viele inhaltliche Überschneidungen mit den bereits in den 1920er Jahren geschlossenen Konkordaten des Heiligen Stuhls mit den Ländern Bayern, Preußen und Baden, mit unserem heutigen Grundgesetz und mit den seit den 1990er Jahren geschlossenen Verträgen der Bundesländer. Insofern hat es nur noch eine subsidiäre Bedeutung. Zum einen greifen seine Regelungen, wenn ein Gegenstand in Landesverträgen nicht geregelt ist. Das ist etwa in Bayern der Fall, wo der Treueid nicht im Landeskonkordat steht. Zum anderen ist es eine rechtliche Versicherung der Kirche. Wenn der Staat Rechte angreifen oder die Religionsartikel der Verfassung ändern würde, dann würden die Bestimmungen des Reichskonkordats gelten.
KNA: Braucht es angesichts dessen das Konkordat überhaupt noch?
Wille: Der 90. Jahrestag könnte ein Anlass sein, um über eine Ablösung oder ein Update des Reichskonkordats zu diskutieren. Auch der Bedeutungswandel der Kirchen spräche gesellschaftspolitisch sicher dafür, zumindest über eine Reform nachzudenken. Allerdings gibt es weder für den Staat noch für die Kirche drängende Gründe, den Vertrag anzufassen, da er juristisch gesehen niemandem schadet.
KNA: Und auf den zweiten Blick?
Wille: Für die Kirche könnte eine symbolträchtige Ablösung des Reichskonkordates und die Bereinigung von darin angesprochenen Konfliktthemen, wie etwa Staatsleistungen und Kirchensteuern, sicher auch eine Chance darstellen. Aber auch der Staat könnte sich anlässlich des Jubiläums fragen, wie er in Zukunft sein Verhältnis zu den Kirchen und die Verteilung von Rechten und Pflichten gestalten will. Entscheidend ist, dass beides im Dialog der Vertragspartner passiert, wie es die Freundschaftsklausel des Reichskonkordates auch vorsieht.
KNA: Wie sehen Sie die Zukunft des Konkordates?
Wille: Es ist wahrscheinlich, dass der Vertrag erstmal weiter in "ruhiger Geltung" bleibt, wie es der Rechtswissenschaftler Alexander Hollerbach einmal treffend formuliert hat. Die aktuelle Bundesregierung hat die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, die übrigens auch im Reichskonkordat festgeschrieben ist, in ihren Koalitionsvertrag aufgenommen und wird sich zunächst diesem Thema widmen. Aber nichts währt ewig. Irgendwann wird es sicherlich den Moment geben, in dem das Reichskonkordat auf den Prüfstand kommt. Die Verhandlungen könnten jedoch verzwickt werden, da neben dem Bund und den deutschen Bischöfen ganz sicher auch der Vatikan und möglicherweise auch die Länder mit am Tisch sitzen müssen.