DOMRADIO.DE: Der Abgrund, der sich bei allen Religionen zwischen Wunsch und Wirklichkeit auftut - zwischen Friedensbotschaft und tatsächlichem Handeln -, ist ja zutiefst verstörend. Lässt sich diese Widersprüchlichkeit erklären?
Prof. Norbert Mette (Katholischer Theologe und Religionspädagoge an der Uni Dortmund): Einen wesentlichen Faktor sehe ich darin, dass Religionen immer wieder in der Versuchung standen und stehen, um der Ausbreitung ihrer Heilslehre willen mit den jeweiligen Mächtigen zu paktieren und deren Willen zur Erweiterung ihrer Machtsphäre zu unterstützen, indem sie das einfach nochmal religiös überhöhen. Das Ganze geschieht in der Absicht, möglichst vielen Menschen - nach Möglichkeit allen - die von der Religion verheißende Heilszusage zuteil werden zu lassen.
Aber mit dem Paktieren und den damit eben doch so häufig eingetretenen tödlichen Folgen für viele Menschen haben die Religionen große Schuld auf sich geladen und laden sie auf sich. Und es bedurfte und bedarf eines intensiven Lernprozesses, um zu erkennen, dass die Verheißung des Heils nicht mit Gewalt Hand in Hand gehen kann.
DOMRADIO.DE: Fangen wir mal beim Judentum an. Der Gott des Alten Testaments wird ja über weite Strecken geschildert als ein eifersüchtiger Kriegsherr. Wo bleibt da die Friedensverheißung?
Mette: Das ist ein Bild Gottes im Alten Testament. Ganz ausdrücklich kommt es etwa im Lobgesang der Israeliten nach dem Durchzug durch das Schilfmeer im 15. Kapitel des Buches Exodus zur Sprache. Aber ich meine, dass dieses Bild im Laufe der Zeit immer deutlicher überlagert worden ist von einem Gott, der für sein Volk und für die ganze Menschheit auf Schaffung von Frieden und Gerechtigkeit bedacht ist.
Dafür gibt es ein eindrucksvolles Beispiel in der Eliasgeschichte im Kapitel 18/19 des Ersten Buches der Könige. Da hat Elias auf dem Berg Karmel seinen Gott beschworen, mit Feuer dessen Überlegenheit über die anderen Götter zu erweisen. Doch dann flieht er auf den Berg Horeb. Und dort begegnet ihm ein Gott nicht in Sturm, nicht in Erdbeben, nicht in Feuer, sondern - wie Martin Buber es übersetzt hat - in Form der "Stimme eines verschwebenden Schweigens".
Ich denke, dass das Alte Testament von Bildern eines glücklichen Zusammenlebens in Frieden und Gerechtigkeit gekennzeichnet ist und dass sich dieses Bild immer stärker durchsetzt. Man denke nur an das Bild beim Propheten Jesaja von der Vision eines paradiesischen Friedens. Dieses Bild hat ja auch die Kunst beeinflusst, bis hin zu Picasso.
DOMRADIO.DE: Wir Christen glauben an Jesus den Gewaltlosen. In der Vergangenheit haben die Christen das aber immer wieder vergessen - so scheint es. Stichworte: Kreuzzüge, gewaltsame Christianisierung Lateinamerikas und Afrikas, Inquisition, et cetera. Wie friedlich sehen Sie das Christentum heute?
Mette: Ich denke, dass ohne die Friedensbotschaft des Alten Testaments der gewaltlose Jesus gar nicht zu verstehen ist. Er beruht ja darauf. Aber an der grausamen Gewaltgeschichte des Christentums kann gar nichts beschönigt werden. Man muss allerdings auch sehen, dass seitens des Christentums in der Geschichte Bemühungen unternommen worden sind, die Kriegstreiberei einzudämmen. Das gilt etwa für die Lehre vom gerechten Krieg, die ja strenge Regeln vorgesehen hat, wann eine Kriegsführung überhaupt berechtigt ist.
Mittlerweile hat sich in der christlichen Ökumene - also in allen Kirchen, soweit ich das überblicken kann - ein Paradigmenwechsel vollzogen. An die Stelle der Lehre vom gerechten Krieg ist eine Lehre vom gerechten Frieden getreten. Kurz zusammengefasst heißt das: Man kann nicht erst tätig werden, wenn der Krieg schon eingetreten ist bzw. bevorsteht. Sondern es müssen alle Maßnahmen ergriffen werden, dass es gar nicht erst zum Krieg kommt - das heißt: Schaffung von Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in der Welt. Und ich meine auch, dass man ohne Übertreibung durchaus sagen kann, dass es heutzutage kaum eine andere Weltorganisation gibt, die sich dermaßen entschieden für die Schaffung einer friedlichen und gerechten Welt einsetzt wie die Kirchen.
DOMRADIO.DE: Das größte Gewalt-Imageproblem hat seit langem der Islam. Ist das ungerecht?
Mette: Es ist natürlich schwierig von "dem Islam" zu sprechen. Es gibt da einen sehr guten Beitrag der in den USA tätigen muslimischen Friedensforscherin Ayse Kadajifci-Orellana. Nach ihr lassen sich im Islam drei gegensätzliche Interpretationsweisen von Gewalt und Frieden unterscheiden: Sie nennt als erste eine offensive Weise. Es gilt Allahs Herrschaft auf der Erde als Garant für Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden durchzusetzen; notfalls mit Gewalt. Dann nennt sie eine defensive Interpretationsweise. Das heißt, im Falle einer Bedrohung sind kriegerische Abwehren erlaubt. Und schließlich eine gewaltlose Interpretationsweise.
Die Friedensforscherin meint, dass die gewaltlose Interpretationsweise am besten den Quellen des Islam entspricht. Und sie setzt sich gemeinsam mit einer ganzen Bewegung weltweit dafür ein, innerhalb der eigenen Reihen Bewusstsein dafür zu bilden, dass Gewaltlosigkeit auch der Weg des Islam zu sein hat und dass auf diese Weise die Islamisten delegitimiert werden. Ich denke, es wäre schön, wenn von diesen Aktivitäten auf islamischer Seite auch bei uns etwas stärker berichtet würde und nicht nur über den islamistischen Terrorismus. Im übrigen muss man ja wohl auch sagen, dass das Phänomen des Fundamentalismus nicht nur ein Problem des Islam ist sondern auch des Christentums und anderer Religionen.
DOMRADIO.DE: Rund um den Globus prägen Kriege und Konflikte unsere Zeit. Wie hoffnungsvoll sind Sie, das trotz aller Tendenzen, zur Quelle von Gewalt zu werden, Religion auch wirklich einen wichtigen Beitrag zu Befriedung und für künftigem Frieden leisten kann?
Mette: Während seines Besuchs in den Vereinigten Arabischen Emiraten im Februar dieses Jahres hat Papst Franziskus gemeinsam mit dem Großimam der Al-Azar-Universität in Kairo im Beisein von Vertretern aller Religionen ein Dokument verfasst. Aus dem möchte ich zitieren:
"Ebenso erklären wir mit Festlichkeit, dass die Religionen niemals zum Krieg aufwiegeln und keine Gefühle des Hasses, der Feindseligkeit, des Extremismus wecken und auch nicht zur Gewalt oder zum Blutvergießen auffordern. Diese Verhängnisse sind Frucht der Abweichung von den religiösen Lehren. Das ist politische Nutzung der Religionen. Deshalb bitten wir alle, aufzuhören die Religionen zu instrumentalisieren, um Hass, Gewalt, Extremismus und blinden Fanatismus zu entfachen. Wir bitten es, zu unterlassen, den Namen Gottes zu benutzen um Mord, Exil, Terrorismus und Unterdrückung zu rechtfertigen. Wir bitten darum, aufgrund unseres gemeinsamen Glaubens an Gott, der die Menschen nicht erschaffen hat, damit sie getötet werden oder sich gegenseitig bekämpfen und auch nicht, damit sie in ihrem Leben und in ihrer Existenz gequält und gedemütigt werden."
Ich denke, wenn die Religionen miteinander sprechen und zusammenarbeiten auf der Basis gegenseitigen Vertrauens, könnten sie ein Vorbild abgeben, wie in unserer tief gespaltenen Welt Frieden gestiftet werden kann.
Das Interview führte Hilde Regeniter.