Die 1925 - also noch in der Zeit des französischen Mandats - entstandene Verfassung des Libanon proklamiert in Artikel 9 "die absolute Gewissensfreiheit". Damit unterscheidet sich der Libanon von allen anderen Staaten des Vorderen Orients und es ist nur natürlich, dass das Land zum Zufluchtsort vieler Glaubensgemeinschaften geworden ist, die im Großen und Ganzen friedlich miteinander koexistierten. Dabei spielt Religion in der libanesischen Politik eine wichtige Rolle.
"Nationalpakt"
Während der erste Präsident des Libanon, Sharl Dabbas (1884-1935), griechisch-orthodox war, einigte man sich 1943 auf die Verteilung der politischen Ämter im Land nach Religionszugehörigkeit, bekannt als "Nationalpakt". Seitdem ist der Präsident immer ein maronitischer Christ, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident muss ein schiitischer Muslim sein.
Dies basierte in etwa auf den damaligen Größenverhältnissen der einzelnen Religionsgemeinschaften, die sich inzwischen aber deutlich verändert haben dürften. Um den Pakt nicht zu gefährden, hat das Land aber seit 1932 keine offizielle Volkszählung mehr durchgeführt.
30 Prozent sind Christen
"Statistics Lebanon", ein unabhängiges Meinungsforschungsinstitut, schätzt, dass inzwischen rund 69 Prozent der Bevölkerung Muslime sind (davon 31 Prozent Sunniten, 32 Prozent Schiiten, gut 5 Prozent Drusen, die als Muslime gezählt werden, und 0,6 Prozent Alawiten und Ismailiten zusammen) und nur noch gut 30 Prozent der Bevölkerung Christen.
Die größte christliche Gruppe sind die maronitischen Katholiken (mit 52 Prozent der christlichen Bevölkerung), gefolgt von den orthodoxen Christen (25 Prozent der christlichen Bevölkerung). Zu den zahlreichen anderen christlichen Gruppen gehören griechische Katholiken (Melkiten), armenisch-orthodoxe und armenisch-katholischeChristen, syrisch-orthodoxe und syrisch-katholische Christen, Assyrer, chaldäische Katholiken, Kopten, Protestanten, römische (lateinische) Katholiken sowie Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen).
Kaum Juden im Land
Der Jewish Community Council, der die jüdische Gemeinde des Landes vertritt, schätzt, dass lediglich 70 bis 100 Juden im Land leben. Berücksichtigt man auch die syrische und palästinensische Flüchtlingsbevölkerung, die offiziell nur zeitweilig, de facto aber teils seit Jahrzehnten im Libanon lebt, verschiebt sich das Bild noch einmal zugunsten der Muslime.
Die derzeitigen blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hisbollah betreffen existenziell auch die Christen des Landes, zumal die israelischen Angriffe sich inzwischen auf den gesamten Libanon und damit auch auf die vorrangig von Christen besiedelten Landesteile ausweiten.
Dringlichkeitsversammlung
Bei einem israelischen Luftangriff auf ein Wohnhaus im Nordlibanon sind so nach Angaben der Gesundheitsbehörden mindestens 21 Menschen getötet worden. Acht weitere Menschen wurden bei dem Angriff in dem Dorf Aitou im mehrheitlich christlichen Bezirk Zgharta verwundet, wie das libanesische Gesundheitsministerium mitteilte. Die Religionsgemeinschaften des Libanon haben nun reagiert und sind am 17. Oktober 2024 in Bkerké, dem Sitz des maronitischen Patriarchats, in Anwesenheit des Apostolischen Nuntius Paolo Borgia als Vertreter des Heiligen Stuhls zu einer Dringlichkeitsversammlung zusammengekommen.
Am Ende des Treffens appellierten die Führer der verschiedenen Religionen an den UN-Sicherheitsrat, "rasch zusammenzukommen und über eine Resolution abzustimmen, die einen Waffenstillstand im Land der Zedern vorschreibt". Dieser Aufruf erfolgte zu einem Zeitpunkt, zu dem der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant die Aussicht auf einen Waffenstillstand erneut geringschätzig abtat und erklärte, jegliche Verhandlungen zur Beendigung der Kämpfe mit der Hisbollah dürften nur "unter Beschuss", also mit Waffengewalt, geführt werden.
Solidarität unter den Religionsgemeinschaften
Unter den etwa 30 Persönlichkeiten, die in Bkerké die 18 anerkannten Religionsgemeinschaften im Libanon vertraten, waren: der maronitische Primas Beshara Kardinal Raï, der Mufti der Republik, Abdel Latif Derian, der Vizepräsident des schiitischen Obersten Rates, Ali el-Khatib, der drusische Scheich Akl, Sami Abil-Mouna, der griechisch-orthodoxe Patriarch Youhannan X. Yazigi, und das Oberhaupt der alawitischen Gemeinschaft, Ali Kaddour. So scheint die gegenwärtige Situation zumindest ein Gutes zu bewirken, dass sich die Religionsgemeinschaften des Libanon in der Stunde der Gefahr wieder stärker solidarisieren wie es auch in der jüngeren Vergangenheit oft der Fall war.
Die Religionsvertreter betonten die Dringlichkeit eines Waffenstillstands, die absolute Notwendigkeit der Wahl eines Präsidenten, dessen Amt seit dem Rücktritt von Michel Aoun im Oktober 2022 vakant ist. Als weitere wichtige Punkte nannten sie die nationale Einheit, die zentrale Bedeutung des Staates, aber auch der palästinensischen Sache sowie die Einhaltung des Abkommens von Taif.
"Zeichen der Hoffnung"
Patriarch Beshara Rai bezeichnete die Versammlung als ein "Zeichen der Hoffnung" für die Libanesen. Im Wesentlichen forderte dasOberhaupt der maronitischen Kirche alle Parteien auf, die Beilegung interner politischer Streitigkeiten auf später zu verschieben und stattdessen ihre Reden und Bemühungen auf die "Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls aller Gemeinschaften im Libanon" zu konzentrieren.
Die einzige Abweichung von dieser Parole kam erwartungsgemäß von schiitischer Seite: Scheich Ali el-Khatib, der stellvertretendeVorsitzende des schiitischen Hohen Rates, hielt eine zweideutige Rede, in der er den Widerstand der Hisbollah begrüßte und damit rechtfertigte, dass "der Staat seine Souveränität jahrzehntelang aufgegeben und sich als unfähig erwiesen hat, sein Volk zu verteidigen". Zudem rief el-Khatib zur Wahl eines "einvernehmlichen" Präsidenten auf, was als Infragestellung des Nationalpakts gedeutet wurde.
Ein Modell des Pluralismus?
Bereits heute unterhält die schiitische Gemeinschaft parallel zu den libanesischen Streitkräften ihre Miliz der Hisbollah. Unterstrichen wurde das auch durch die Teilnahme des dschafaritischen Mufti Ahmad Kabalan, inoffizieller Sprecher der Hisbollah und potenzieller Nachfolger von Scheich Ali el-Khatib.
Der drusische Scheich Akl bezog sich dagegen auf Papst Johannes Paul II. und dessen Vorschlag, den Libanon als "ein Modell des Pluralismus für den Osten und den Westen" anzusehen. Diese Formulierung, die auch noch im Vorentwurf des Abschlusskommuniqués auftauchte, wurde dann aber aus dem endgültigen Entwurf gestrichen.
"Die Welt schaut schweigend zu"
Deutlich positionierte sich auch der orthodoxe Patriarch von Antiochien, zu dessen Territorium der Libanon gehört: "Als Muslime und Christen im Libanon, der uns so sehr am Herzen liegt, halten wir unsere Hände in der Zeit der Gefahr zusammen. Wir sind mit einer brutalen Aggression Israels, die vom Gazastreifen ausgeht und nun den Libanon erreicht, während die ganze Welt schweigend zusieht, sprachlos wie ein Stein.
Wir schreien laut und fordern, dass die internationale Gemeinschaft sich beeilt und diesen Krieg beendet, und zwar heute und nicht erst morgen. Was ist der Sinn dieses kriminellen Verhaltens? Wir sehen vor uns unschuldige Menschen, Frauen, Kinder, Häuser, Märtyrer, Zerstörung und Vertreibung. Leider sieht die Welt gleichgültig zu!"
Hilfe für Wiederaufbau
Nach den Reden forderten die Religionsführer "die vollständige Umsetzung der Resolution 1701, insbesondere im Hinblick auf dieUnterstützung der Armee und deren Einsatz südlich des Litani-Flusses". Das Kommuniqué dankt den Gemeinden, die die Vertriebenen aufgenommen haben, betont aber auch, dass sie "das Eigentum des Einzelnen respektieren und jede Form der Beeinträchtigung desselben ablehnen".
Schließlich dankten die Teilnehmer des interreligiösen Treffens "den arabischen Ländern und dem Ausland ... für ihre politische Unterstützung und ihre materielle, medizinische und Nahrungsmittelhilfe" und baten um ihre Hilfe beim Wiederaufbau dessen, was von der israelischen Armee weiterhin systematisch zerstört werde.
Waffenstillstand
Bereits zuvor kam es auf Einladung des griechisch-orthdoxen Patriarchen Johannes X. von Antiochia zu einem Treffen mit den orthodoxen Ministern und Parlamentsabgeordneten des Libanon. Die Teilnehmer verurteilten "den von Israel geführten Krieg gegen den Libanon und seine Bürger, der von Attentaten, der Ermordung unschuldiger Bürger, Zerstörung, Zwangsmigration und Vertreibung begleitet wird" und forderten die Entscheidungsträger in aller Welt auf, sich für die Beendigung des andauernden Tötens einzusetzen.
Weiter forderten auch sie alle libanesischen Parlamentarier auf, unverzüglich einen Präsidenten der Republik gemäß den Bestimmungen der Verfassung zu wählen. Die Vertreter der orthodoxen Bevölkerungsgruppe forderten sodann ebenfalls einen sofortigen Waffenstillstand. Ausdrücklich würdigten die Teilnehmer der Konferenz General Joseph Khalil Aoun, ebenfalls einem maronitischen Christen, der seit 2017 Kommandant der libanesischen Armee ist, bei der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung.