domradio.de: Warum gehen die Leute ausgerechnet jetzt auf die Straße?
Dr. Monika Kleck (Länderbeauftsagte für Rumänen vom Hilfswerk Renovabi): Konkreter Anlass war eine Eilverordnung, die die Verfolgung von Korruption stark eingeschränkt hätte. Dazu muss man wissen, dass Korruption in Rumänien ein sehr sensibles Thema ist. Die Menschen leiden schon sehr lange darunter, dass das Gesundheitssystem, das Justizsystem, das Schulsystem – eigentlich alle Systeme – von Korruption beeinflusst sind. Die Bürger hatten in den letzten Jahren das Gefühl, dass es besser wird, wenn die Behörden an dem Problem arbeiten. Schließlich mussten Politiker wegen Korruption ins Gefängnis, genauso wie andere hoch gestellte Personen. Und die Leute haben jetzt einfach Angst, dass das alles rückgängig gemacht werden könnte. Außerdem hatten sie ja schon einmal Erfolg mit Protesten. Nachdem nämlich 2015 in einer Disco bei einem Brand 60 Leute ums Leben gekommen waren, musste der damalige Ministerpräsident zurücktreten. Das heißt, die Rumänen kämpfen für ihre bisherigen Erfolge.
domradio.de: Sie haben es gesagt: schon 2015 hatte das Volk den damaligen Ministerpräsidenten per Protest zum Rücktritt gezwungen. Ist das, was wir jetzt erleben, also quasi ein Wiederaufflammen der Proteste von damals?
Kleck: Ja. Wobei die Proteste jetzt noch mal einen ganz eigenen Charakter haben. Die Leute sind wütend über die Art und Weise, wie dieses Dekret erlassen wurde – in einer Nacht-und-Nebel-Aktion um Mitternacht, ohne Parlament. In solche Zeiten wie unter den Kommunisten will man einfach nicht zurück.
domradio.de: Wie bewerten Sie diese neue Massenbewegung – was zeigt sie über das Selbstverständnis der Rumänen?
Kleck: Die Rumänen haben immer gesagt: "Wir waren die einzigen im Osten, die eine richtige Revolution gemacht haben. Wir sind auch schon 1989 auf die Straße gegangen und wir haben wirklich unseren Diktator gestürzt." Da ist also ein bisschen Revoluzzertum im Spiel. Außerdem haben die Menschen einfach satt, was da alles passiert ist; sie wollen Veränderung, sie wollen als ganz normales Mitglied zu dieser Europäischen Union gehören. Sie wollen nicht immer die sein, die wegen Korruption angeprangert werden. Vor allem aber wollen sie einfach ein ganz normales Leben führen und nicht ständig zahlen müssen für Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein müssten.
domradio.de: Beobachter sprechen von einer „neuen pro-europäischen Bewegung“ – teilen Sie diese Bewertung?
Kleck: Ich denke, es geht den Demonstranten erst einmal um sich selbst. Weil in diesem Land einfach so viel schief läuft und weil sie es nicht mehr hinnehmen wollen, dass die großen Fische sich einfach freikaufen können, während die kleinen leiden müssen. Es geht ihnen aber auch um Europa, es geht ihnen darum, sich wirklich auch vom Osten abzuwenden. Das hat mir erst heute Morgen ein lokaler Partner gesagt: "Das sind jetzt die jungen Leute, die mit auf die Straße gehen, die arbeitende Bevölkerung. Sie wollen nicht mehr, dass die sozialistische Partei mit Putin gemeinsame Sache macht, sie wollen nicht mehr zurück in das, was sie mit dem Kommunismus verbinden. Sie wollen zu einem modernen Europa gehören!"
domradio.de: Wie verhalten sich die Kirchen zur Protestbewegung?
Kleck: Es gibt wenig offizielle Aussagen. Es gibt einen Aufruf zum Gebet; es gibt Erklärungen, dass auch die Kirchen gegen Korruption sind. Das hat sowohl der römisch-katholische Erzbischof Robu in Bukarest als auch der orthodoxe Patriarch gesagt. Außerdem gehen auch Priester mit auf die Straße, nehmen an den Demonstrationen teil; sie halten sich etwas im Hintergrund, setzen aber trotzdem ein Zeichen: Die Kirche möchte auch, dass endlich mit dieser Korruption Schluss ist!
domradio.de: Was wissen Sie über Ihre Projektpartner – wie stehen die zu den Protesten?
Kleck: Bei denen ist es ähnlich wie bei den Kirchenleuten. Sie machen mit, sie unterstützen die Bewegung, sie sind stolz, Teil daran zu haben. Allerdings machen sie das vor allem auf der persönlichen Ebene. Denn die Organisationen sind natürlich erst einmal sehr vorsichtig, sich zu positionieren; schließlich müssen sie auch danach weiter in diesem Staat leben.
domradio.de: Wie schätzen Sie das ein – werden die Demonstranten etwas bewirken? Die haben ja jetzt prominente Unterstützung, gestern ist der deutschstämmige Präsident Klaus Johannis mit auf die Straße gegangen…
Kleck: Klaus Johannis ist nicht nur mit auf die Straße gegangen, er war schon von Anfang an mit dabei und hat zum Beispiel auch gestern im Parlament eine Rede gehalten. Es sind vor allem zwei Dinge, um die es den Menschen jetzt geht. Zum einen: das Dekret, das zu den Protesten geführt hat, wurde ja inzwischen durch ein neues Dekret zurückgenommen. Und dieses neue Dekret wiederum kann durch das Parlament innerhalb von zehn Tagen rückgängig gemacht werden; dieser zehnte Tag ist bald. Da warten die Leute jetzt ab, was an diesem zehnten Tag passiert. Ob das zweite Dekret auch wieder zurückgenommen wird? Dann müssten sie wieder auf die Straße gehen. Falls es in Kraft bleibt, ist erst einmal gut so. Aber die Menschen beobachten genau, was die Verantworten jetzt unternehmen. Also ist die Sensibilisierung für die Politik gestiegen. Zweitens geht es nicht darum, und das hat auch Präsident Johannis in seiner Parlamentsrede gesagt, die ganze Regierung zu stürzen und Neuwahlen herbeizuführen. Sondern es müssten die zurücktreten, die sich diskreditiert haben. Das sind an erster Stelle der Justizminister und der Premierminister. Sie müssen durch vertrauensvolle Leute ersetzt werden.
Das Gespräch führte Heike Sicconi.