Bis heute wirkt sich die vor 500 Jahren begonnene Reformation aus. Ohne die von Martin Luther angestoßene Entwicklung sähe nicht nur das Verhältnis von Kirche und Staat oder von Religion und Politik, sondern auch der deutsche Verfassungsstaat anders aus.
Das von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg herausgegebene und am Freitagabend in Stuttgart vorgestellte Buch "Staat und Kirche seit der Reformation" spürt diesen Fragen nach. Dabei wechseln sich regionale und bundesweite Blickwinkel ab.
"Fördernde Neutralität" nennt Bundesverfassungsrichter Wilhelm Schluckebier in seinem Aufsatz die heutige Form der Kooperation zwischen Staat und Kirche. Die zugleich bestehende Trennung werde in Karlsruhe "moderat interpretiert", schreibt der Jurist, der im Zweiten Senat des Verfassungsgerichts federführend für den Themenbereich Glaubens- und Bekenntnisfreiheit ist.
Schwierige Themen
Schluckebier geht auch auf schwierige Themen ein wie die Staatsleistungen, die die Kirchen als Folge der Enteignungen während der Säkularisierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts erhalten, das kirchliche Arbeitsrecht oder den Einzug von Kirchensteuern durch den Staat. Dies allerdings alles sehr zurückhaltend - Schluckebier wäre schließlich derjenige, der maßgeblich an etwaigen Verfassungsgerichtsentscheidungen mitwirken würde.
Die großen geschichtlichen Linien zeichnet der Kirchenhistoriker Hubert Wolf nach, der 2003 mit dem Leibnitz-Preis die am höchsten dotierte deutsche Wissenschaftsauszeichnung erhielt. Er zieht Verbindungen zwischen dem Konstanzer Reformkonzil (1414-1418) und der 100 Jahre danach in Wittenberg angestoßenen Reformation: Wären die am Bodensee gefassten Beschlüsse konsequent umgesetzt worden und hätte man in Rom das Konstanzer Signal gehört, wäre es nicht zur Reformation gekommen, so seine Überzeugung.
"Ein wahrhaft Ökumenisches Konzil"
Wolf wagt eine steile These: "Vielleicht wäre die Stadt am Bodensee, die südwestdeutsche Liberalität und religiöse Aufgeschlossenheit atmet, heute wieder der geeignete Ort für ein Religionsgespräch zwischen den christlichen Konfessionen, für ein wahrhaft Ökumenisches Konzil, das dann "Constanciense II" heißen würde." Rom und Wittenberg wären als Orte einer solchen Reform dagegen "kaum geeignet", so Wolf.
Der Tübinger Politologe Hans-Georg Wehling geht der Frage nach, ob und welche Auswirkungen bis heute die Konfession aufs Wahlverhalten in der Bundesrepublik hat. Ergebnis: Zwar gebe es "mit deutlich schwindender Bedeutung" immer noch "konfessionell determiniertes Wahlverhalten" - also etwa die Beobachtung, dass Katholiken gerne ihr Kreuz bei CDU/CSU machen. Wahlen und Teilnahme am kirchlichen Leben seien aber zunehmend weniger ein "kollektiver Akt", sondern hätten sich weitgehend individualisiert.
Vor allem Fairness
Zugenommen hat dagegen die Bedeutung anderer Religionen, und auch das will der Band abbilden. Der Rektor der Heidelberger Hochschule für Jüdische Studien (HfJS), Johannes Heil, hat die Entwicklung seiner Religion im Blick, der Erlanger Jurist und Islamwissenschaftler Mathias Rohe plädiert im Umgang mit Muslimen für "nüchterne Sachlichkeit in aufgeregten Zeiten". Zwischen "Verteufelung und unkritischer Verherrlichung" benötigten Islam und Muslime vor allem Fairness.
Vier Historiker beleuchten in dem rund 350-seitigen Buch die kirchliche Entwicklung im Südwesten: je zwei Mal geht es um Baden und Württemberg sowie um Katholiken und Protestanten. Deutlich wird, dass schon diese Aufteilung schematisierend und vereinfachend ist. Und dass nach Reformation und Religionskriegen vor allem die Napoleonische Zeit den Südwesten tiefgreifend geprägt hat: Freiburg wurde statt Konstanz katholischer Bischofssitz, und in Württemberg wurde das Bistum Rottenburg gegründet. Vorher saßen die zuständigen Bischöfe in Augsburg, Mainz, Speyer, Straßburg, Worms und Würzburg.
Das Verhältnis von Staat und Kirche ist, so der rote Faden des Sammelbands, stark durch die Geschichte geprägt. Entstanden ist, so formuliert es Wolf, im Unterschied zu anderen europäischen Staaten "ein gemischt-konfessionelles Land mit ausgeprägten Konfessionslandschaften". Sie prägen bis heute.