Mindestens 11.908 Frankfurter Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet - ihre Namen sind dem Jüdischen Museum Frankfurt bekannt. Doch wie kann man die Dimension dieses unfassbaren Massenmordes heute begreiflich machen? Eine Kunstaktion versuchte dies: Die 11.908 Namen der Ermordeten sollten mit weißer Kreide auf die - für den Autoverkehr gesperrte - Straße am Mainkai in Frankfurt geschrieben werden.
Die fünftägige Aktion "Schreiben gegen das Vergessen" begann am Sonntag und endete am Donnerstag. "Das visuelle Erlebnis, wenn man an einer schier endlosen Strecke an Namen vorbeigeht", beeindrucke viele Menschen, sagte die Initiatorin, Künstlerin und Filmemacherin Margarete Rabow. 600 Meter seien das - vom Mainkai 17 bis zur Untermainbrücke.
Zuspruch von vielen Seiten
Auf der Internetseite des Projekts konnten sich Einzelne und Gruppen anmelden, um Namen Ermordeter auf die Straße zu schreiben. In mehreren Reihen stehen schließlich Namen über Namen - weiß und alphabetisch geordnet - auf dem schwarzen Asphalt. Mit Erschrecken entdeckt man oft mehrere Personen mit gleichem Familiennamen: "Charlotte M. Badmann, Ernst Otto Badmann, Fanny Badmann, Hans Badmann ...".
Die Aktion wolle "das Ausmaß nationalsozialistischer Verbrechen sichtbar machen und so viele Menschen wie möglich erreichen", sagte Daniela Kalscheuer von der Katholischen Akademie Rabanus Maurus und Mitveranstalterin des Projekts. Frankfurts Bürgermeister Uwe Becker (CDU) erklärte, die Aktion rüttele wach und zeige auf, "was es bedeutet, so viele Menschen im industriellen Massenmord des Nationalsozialismus umgebracht zu haben".
Kein Name soll ungeschrieben bleiben
Wer allerdings zufällig vorbeikommende Passanten oder Radfahrer beobachtete, stellte fest: Längst nicht jeder nahm Notiz, viele blickten nicht nach unten auf die vielen Namen. Zahlreiche Vor- und Nachnamen waren zudem schon nach Stunden nicht mehr zu entziffern, vor allem wegen des erlaubten Fahrradverkehrs. Manch ein "Schreiber" zeigte sich darüber enttäuscht.
Von Dauer soll das Kreide-Gedenkprojekt allerdings auch gar nicht sein. "Wenn es regnet, ist es weg", sagte Rabow. Das Projekt sei so angelegt, "dass es etwas Vergängliches hat". Am Mittwoch war die Aktion etwa wegen eines Sturms kurzfristig ins katholische Bildungszentrum "Haus am Dom" verlegt worden. "Dort haben wir dann wegen des Wetters 2.040 der 11.908 Namen auf Papier geschrieben", sagte Rabow. "Es ist immens wichtig, dass kein Name ungeschrieben bleibt", betonte sie.
Namen werden gefilmt
Die Namen - ob auf der Straße oder auf Papier - würden zudem abgefilmt, einer nach dem anderen. Über das Projekt wird eine Dokumentation mit dem Titel "11.908" produziert. Während sich die Namen auf der Straße auflösen oder abwaschen, soll so ein bleibendes Dokument entstehen. Rabow bilanziert, sie habe "unglaublich viel Zustimmung" erlebt.
Frankfurt am Main war vor 1933 die deutsche Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil, ihre Jüdische Gemeinde die zweitgrößte in Deutschland - nach Berlin. Im Finanzwesen, in Bildung und Wissenschaft, aber auch in einer Vielzahl von Vereinen und Stiftungen prägten Juden die Stadt.
Auch Schüler schrieben mit
Bei Kriegsende 1945 war diese vielfältige Kultur durch die Verfolgung, Deportation und Ermordung von Juden völlig zerstört gewesen. Statt einstmals rund 30.000 jüdischen Frankfurtern hielten sich nur noch etwa 100 bis 200 in der zerstörten Stadt auf.
Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD), die am Dienstag mit Schülern selbst Namen von Schoah-Opfern auf den Asphalt am Mainkai geschrieben hatte, sprach von einem "bedeutsamen Gedenkprojekt".
Auch in Wien wurden schon Straßen beschrieben
Schon 2018 hatte Rabow in Wien eine Aktion realisiert, bei der die Namen der 66.000 während der Schoah ermordeten österreichischen Juden auf die Wiener Hauptallee geschrieben wurden.
Die Jüdische Gemeinde Frankfurt hatte danach angefragt, ob solch ein Gedenkprojekt auch hier möglich sei. Die Schicksale tausender Ermordeter wurden damit wieder im öffentlichen Raum sichtbar - allerdings nur kurz.