Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat sich für eine Meldepflicht bei antisemitischen Vorfällen ausgesprochen. Dies könne helfen, ein besseres Gesamtbild zu bekommen, sagte Schuster dem Berliner "Tagesspiegel". Dabei sollten nicht nur strafrechtlich relevante Taten registriert werden.
"Es gibt eine hohe Dunkelziffer von Vorfällen, die nie zur Anzeige kommen. Dafür braucht es niedrigschwellige Angebote", begründete Schuster seinen Vorschlag. Er verwies auf ein entsprechendes Meldesystem in Bayern für jüdische Gemeinden, das gerade installiert werde. "Für viele Menschen ist es einfacher, wenn sie sich nicht an eine Behörde wenden müssen."
NSU-Prozess zeige Handlungsbedarf
Schuster sieht auch Defizite bei den Strafverfolgungsbehörden. Diese gingen bei Straftaten gegen Minderheiten generell nicht konsequent genug vor. Der NSU-Prozess habe gezeigt, dass noch Handlungsbedarf bestehe. "Ich glaube, dass die Strafverfolgungsbehörden eine stärkere Sensibilität für solche Übergriffe entwickeln müssen."
Mit Blick auf den NSU-Prozess sagte Schuster, viele Fragen seien offen geblieben. "Für mich bleibt ein bitterer Beigeschmack, wegen der zweifelhaften Rolle des Verfassungsschutzes. Für mich war der Verfassungsschutz immer eine ehrenwerte, wirksame Institution zum Schutz des Staates und der Demokratie." Doch seit dem Prozess habe er ernsthafte Zweifel. "Allein die Tatsache, dass Akten in solchem Umfang vernichtet wurden. Oder dass ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes an einem der Tatorte saß und nichts gehört und gesehen haben will", betonte der Präsident des Zentralrates.
Keine Auswanderungswelle von Juden
Schuster beobachtet trotz der aktuellen Stimmung im Land keine Auswanderungswelle von Juden. Zwar habe es in den vergangenen Monaten Angriffe auf Juden gegeben, die eine Kippa tragen. "Aber es wäre der falsche Rückschluss zu sagen, Juden seien in Deutschland nicht mehr sicher." Es gebe aber auch in Deutschland Juden, die nach Israel gehen. Dies geschehe aus ideellen, familiären oder religiösen Gründen, nicht aus politischen.
"Nach dem Krieg hieß es, Juden säßen in Deutschland auf gepackten Koffern. Später sagte man, die Koffer seien jetzt ausgepackt." Sein Eindruck sei, so Schuster, "dass der ein oder andere im Moment vielleicht mal nachschaut, wo er seinen Koffer verstaut hat.
Soziale Medien und judenfeindliche Äußerungen
Schuster bekräftigte seinen Ratschlag an Juden, sich nicht mit einer Kippa in der Öffentlichkeit zu zeigen. Er wolle damit vor allem verhindern, "dass Kinder und Jugendliche durch das Tragen einer Kippa zu Schaden kommen". Vor allem im Internet und den sozialen Medien gebe es zunehmend judenfeindliche Äußerungen.
Mit Blick auf antisemitische Vorfälle und Mobbing unter Schülern sagte Schuster: "Ich habe das Gefühl, dass viele Lehrer nicht genügend dafür sensibilisiert sind." Zudem bestehe in den Schulleitungen zu oft die Sorge, "dass es für das Image der Schule schlecht ist, wenn antisemitische Vorfälle ans Tageslicht kommen".
Dabei sei der Schaden viel größer, "wenn so etwas nicht offen angegangen wird". Er halte es für notwendig, "dass Lehrkräfte im Umgang mit Antisemitismus geschult werden".