An der Tür zu Radhans Büro klebt ein Goethe-Zitat, am Regalbrett über seinem Schreibtisch ein Bild von Muhammad Ali. An der Wand daneben hängt ein Tuch, das auf blauem Grund zwei Hände in Handschellen zeigt, die eine Seite des Korans aufgeschlagen haben.
Der promovierte Islamwissenschaftler startete 2018 als erster muslimischer Gefängnisseelsorger in Rheinland-Pfalz. Inzwischen macht er gemeinsam mit drei Kollegen Angebote für die etwa 18 Prozent muslimischen Inhaftierten im Land. Sie sind, eine Besonderheit in Rheinland-Pfalz, beim Land fest angestellt. Viele andere Bundesländer beschäftigen Honorarkräfte.
40 Prozent der Inhaftierten sind muslimisch
Zwei Tage pro Woche arbeitet Radhan in der Jugendstrafanstalt (JSA) Schifferstadt. Dort sind aktuell etwa 80 Muslime inhaftiert, von insgesamt rund 200 Männern zwischen 14 und 26 Jahren. Von Radhan bekommen Inhaftierte einen Koran oder Gebetsteppich und können Fragen zum Islam, Koran und zu den Gebeten besprechen. "Viele haben die islamischen Gebete nie richtig gelernt oder vergessen", sagt er.
Andere hätten theologische Fragen. Manche wollten persönliche Dinge besprechen. Manchmal vermittele er auch in kulturellen Fragen zwischen Inhaftierten und Justizbeamten oder dolmetsche, sagt Radhan, der außer Deutsch Englisch und Arabisch spricht.
Gebetsteppich weitergeben
Auf dem JSA-Gelände führen gepflasterte Wege zwischen Grünflächen zu zweigeschossigen roten Backsteingebäuden. Es gibt eine Verwaltung, eine Schule, gegenüber Werkstätten und eine Sporthalle. Um einen Ententeich gruppiert liegen vier Hafthäuser. Auf dem Weg über das Gelände öffnet sich ein Fenster in einem Haftgebäude, und ein Gesicht taucht hinter einem Gitter auf: "Assalam Alaikum" grüßt ein Inhaftierter Radhan auf Arabisch. Er will wissen, ob er seinen Gebetsteppich an einen anderen Inhaftierten weitergeben darf, weil er selbst bald entlassen wird.
Zum Gesprächskreis Islam kommen am Nachmittag zehn Inhaftierte in den Konferenzraum der JSA-Schule. Die meisten der jungen Männer begrüßen Radhan auf Arabisch und geben ihm die Hand. Sie tragen Gefängniskleidung - graue T-Shirts oder graue Pullover zu blauen Arbeitshosen und schwarze Schuhe.
Ist Gras haram?
Die Teilnehmer wollen die erste und wichtigste Sure des Koran besprechen, Al-Fatiha. Ein junger Mann, der ursprünglich aus Somalia kommt und sehr gewählt Deutsch spricht, trägt sie melodisch vor. Danach liest die Gruppe die Sure im Koran, bespricht Wort für Wort, diskutiert über die deutsche Übersetzung und Bedeutungen.
Die meisten Inhaftierten sitzen ruhig auf ihrem Platz, beteiligen sich. Handys dürfen die Gefangenen im Gefängnis nicht haben, Internet und Social Media gibt es nicht. Sie sprechen über eine Erzählung im Koran. Radhan stellt Bezüge zu Christentum und Islam her. "Ist krass, dass die auch Abraham haben, also Ibrahim, und Moses", meint der Mann mit Zopf mit Blick auf Christen und Juden. Auch um typische "Knast-Fragen", wie Radhan sie nennt, geht es. Etwa ob das Verkaufen von Gras haram, also im Islam verboten ist.
Islamverbände sind nicht beteiligt
Muslimische Seelsorger in Rheinland-Pfalz müssen einen Universitätsabschluss in islamischer Theologie, Islamwissenschaften oder vergleichbaren Studiengängen vorweisen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung anerkennen. Umgangssprache muss in der Regel Deutsch sein.
Die Islamverbände sind - anders als die Kirchen bei christlichen Seelsorgern - nicht an dem Angebot beteiligt. Das sei auch nicht erforderlich, weil die Seelsorger "Islamwissenschaftler sind und ihre Aufgaben in den Anstalten nach wissenschaftlichen Fachstandards erfüllen", teilte das Justizministerium auf Anfrage mit. Zudem gebe es in Rheinland-Pfalz bisher keine anerkannten muslimischen Religionsgemeinschaften. Und bundesweit bislang auch keine einheitlichen Regeln zur Ausbildung muslimischer Gefängnisseelsorger.
Gefängnisalltag frustrierend
Was die Teilnehmer am Islamkreis schätzen? "Herr Radhan zeigt uns, dass es viele Sichtweisen gibt und lässt uns die Chance, selbst zu entscheiden, was wir überzeugend finden", sagt der Inhaftierte mit somalischen Wurzeln. "Er ist der Einzige, mit dem wir offen reden können", meint ein anderer mit Nachdruck. Den Gefängnisalltag beschreibt er als frustrierend. Viele aus der Gruppe stimmen ihm zu.
Ein Gefangener sagt: "Ich fühle mich in der Zeit nicht wie im Knast." "Man wird nicht beurteilt", befindet ein anderer. Ein weiterer spricht aus, was für viele wohl eine erste Motivation war, den Gesprächskreis zu besuchen: "Ich bin froh, aus meiner Zelle rauszukommen."
Im Knast lernt er was übers Leben
Das will ein Mann mit Zopf nicht so stehen lassen. Im Islamkreis habe er mehr über das Leben und die Religion gelernt, als in der Zeit draußen. "Hier nehme ich etwas mit fürs Leben", meint er. Vorher habe er unüberlegt Sichtweisen von anderen übernommen und lerne nun, selbst nachzudenken.
Aus Sicht des Justizministeriums ist das rheinland-pfälzische Modell ein Erfolg. Das Angebot der muslimischen Gefängnisseelsorge habe sich bewährt. Es werde von den Inhaftierten gut angenommen und von den Gefängnisleitungen als "positive Bereicherung für das Anstaltsleben" gesehen.