Sehnen plus Sucht plus Suche gleich Sehnsucht?

Ein typisch deutsches Wort

Sehnsucht ist eines dieser typisch deutschen Wörter, die sich nicht wirklich in andere Sprachen übersetzen lassen. Doch was steckt sprachlich überhaupt drin? Antworten hat Dr. Christine Möhrs vom Institut für deutsche Sprache in Mannheim.

Ein Kuss am Strand / © Marcelo Sayao (dpa)
Ein Kuss am Strand / © Marcelo Sayao ( dpa )

domradio.de: Fangen wir doch einmal mit der Wortgeschichte an – wo kommt das Wort Sehnsucht denn her?

Dr. Christine Möhrs (Institut für deutsche Sprache in Mannheim/Ateilung Lexik): Das Wort hat zwei Bestandteile, die man sich mal genauer anschauen muss. Da ist zum einen das Wort "Sucht". Im Mittelalter hatte das die ursprüngliche Bedeutung "Krankheit". Krankheit hat man dann zusammen in Verbindung mit Pest oder Aussatz oder Fieber gebracht. Über die Jahrhunderte hinweg hat sich das Wort ein doch ein wenig gewandelt. Es kommt zwar noch immer in Krankheitsbezeichnungen vor; aber daneben hat sich noch eine weitere Bedeutung herausgebildet – nämlich das "intensive Verlangen" nach etwas. Wenn wir uns dann das Wort "sehnen" anschauen, da steckt von der Wortgeschichte her die Bedeutung "etwas oder nach jemandem sehr stark und inniglich verlangen". Wenn wir das Ganze etymologisch – also sprachgeschichtlich betrachten, kommt es aus dem Mittelhochdeutschen. Das mittelhochdeutsche Wort "senen" bedeutet so viel wie "schlaff sein, unglaublich müde sein". Wenn wir das Wort "Sehnsucht" dann wieder zusammensetzen, kommen wir in der heutigen Bedeutung zu einer Beschreibung, die wir vielleicht mit einem "inniglichen, fast schon schmerzlichen Verlangen nach jemanden oder etwas bezeichnen" könnte. So steht es auch in vielen Wörterbüchern. 

domradio.de: Dann sind das also zwei Begriffe, die auch gegeneinander laufen. Dieses "Sehnen", das etwas eher Passives, "Schlaffes" hat - und dann das feurige Verlangen der Sucht. Das bringt ja eine große Spannung zum Ausdruck, oder?

Möhrs: Unbedingt! Ich habe allerdings auch in den vielen Wörterbuchquellen noch eine ganz interessante Nebenbemerkung des Sprachforschers Johann Christoph Adelung gefunden, der dieses Wort "Sucht" nämlich auch noch zum Niederdeutschen zählt. Und da bedeutet "Sucht" so etwas wie "Seufzen". Mir hat das eingeleuchtet. Dann kann man die beiden Bestandteile als gar nicht so widersprüchlich begreifen, sondern als "Seufzen vor Verlangen" oder "Seufzen aus einer heftigen Begierde heraus". Auf jeden Fall handelt es sich bei der "Sehnsucht" um ein komplexes Wort im Deutschen. Wir Deutschen sind ja Meister darin, Wörter zusammenzusetzen und gerade in dieser Zusammensetzung steckt auch eine gewisse Undurchsichtigkeit. Etwa in anderen Wortpaarungen mit "Sucht", wie Eifersucht zum Beispiel, in denen plötzlich diese ursprünglichen Bedeutungen verblassen. Da steckt nicht mehr unbedingt "krankhafte Sucht nach etwas" drin, sondern etwas anderes dahinter. Es gibt außerdem sprachgeschichtlich die Theorie, dass das Wort "Sucht" auch semantisch ein wenig unter dem Einfluss des Wortes "Suchen" steht und dann kommt man der Bedeutung des Wortes noch einmal eine kleine Spur näher, dass hier nämlich ein ganz großes Suchen und Verlangen nach etwas in dem Wort Sehnsucht steckt.

domradio.de: Haben Sie dafür noch andere Belege gefunden?

Möhrs: Wir können hier am Institut für deutsche Sprache ganz große Textsammlungen anschauen und das Wort im ganz aktuellen Sprachgebrauch ein wenig näher betrachten. Das habe ich für das Wort Sehnsucht gemacht - in den großen Datensammlungen unseres Instituts mit über 29 Milliarden Textwörtern. Dabei ist mir aufgefallen, dass unter Begriffen, die zusammen mit Sehnsucht verwendet werden, immer wieder "Geborgenheit", "Heimat", "Freiheit", "Leben", "Ferne", Harmonie" auftauchen, und zwar in der sprachlichen Verwendung "Sehnsucht nach…"  Das zeigt ganz schön, dass die Teilbedeutung "Suche" eben doch sehr stark in dem Wort Sehnsucht enthalten ist.

domradio.de: Sehnsucht zählt zu den typisch deutschen Worten, die fast unübersetzbar sind, weil eine Übersetzung immer nur einen Teilaspekt wiedergibt. Woran liegt das?

Möhrs: Zwei Dinge im Deutschen liefern die Begründung dafür, warum es manchmal auch schwierig ist, solche Wörter eins zu eins zu übersetzen. Zum einen hat die deutsche Sprache den Hang dazu – und das ist vielleicht auch einer ihrer Vorzüge – komplexe Kompositionen zu bilden, wie etwa unser Wort "Sehnsucht". Diese komplexen Sprachgebilde, die Kompositionen, zeichnen sich durch eine gewisse grammatische, aber auch semantische Komplexität aus. Eine solche Komplexität in eine andere Sprache zu übertragen, ist per se nicht einfach, weil meist nur ein Teil des komplexen Musters wirklich angemessen eins zu eins übersetzt werden kann, aber eben nicht das ganze Gebilde. Hinzu kommt, dass die deutsche Sprache über solche Konstruktionen besondere Möglichkeiten besitzt, Gefühle auszudrücken, etwa in Begriffen wie "Geborgenheit", "Gemütlichkeit" oder eben auch "Sehnsucht". Bei allen diesen Begriffen handelt es sich um zusammengesetzte Wörter. Das macht es schwierig, solche Wörter, solche Gefühlsausdrücke in andere Sprachen zu übersetzen. Weiter erschwerend kommt noch dazu, dass die einzelnen Wortbestandteile von ihrem Ursprung her Entwicklungen erfahren haben. Und diese komplexe Etymologie macht es dann eben auch wieder schwer, sie in eine andere Sprache zu übertragen.

domradio.de: Interessanterweise werden manchmal genau solche Wörter dann im Original in andere Sprachen übernommen…

Möhrs: Der deutsche Sprachrat hat dieses Phänomen im Jahr 2007 genauer untersucht, was das für deutsche Wörter sind, die auch in andere Sprachen übernommen werden. Jutta Limbach beschreibt das schön. Sie sagt: "Wir mit unserer deutschen Sprache sind also wahre Meister der Inniglichkeit, der Innerlichkeit." Ich glaube, dieser Punkt spielt im Fall der Sehnsucht eine ganz besondere Rolle.

domradio.de: Jetzt gibt es ja eine ganze Reihe Worte, die benachbarte Gefühle bezeichnen - Wunsch etwa, Begehren oder auch Verlangen. Gerade auch in Abgrenzung zu denen - was macht die Sehnsucht aus?

Möhrs: Auch zu diesem Aspekt befragen wir die großen Textsammlungen, die so genannten Corpora der deutschen Sprache am Institut der deutschen Sprache. Ich habe auch für diese bedeutungsähnlichen Wörter geschaut, mit welchen anderen Partnerwörtern sie vorkommen. Dabei habe ich festgestellt, dass im Zusammenhang mit dem Wort "Sehnsucht" Adjektive auftauchen wie "unerfüllt", "unerfüllbar", "unstillbar", "romantisch", "tief" und "ewig". Bei Verlangen dagegen ergibt die Suche Begriffe wie "sexuell", "unwiderstehlich", "brennend", "zwanghaft". Bei "Begehren" sieht es ähnlich aus, da haben wir es mit "sexuell", "erotisch", "weiblich", "männlich" "körperlich" zu tun. Bei den Begriffen "Begehren" und "Verlangen" steht also eher das Thema Lust im Vordergrund, ebenso Körperlichkeit und Sexualität. Bei Verlangen kommen auch noch Konsumgüter, Alkohol, Nikotin, Zigaretten ins Spiel. Beim "Wunsch" haben meine Untersuchungen gezeigt, dass es hier vor allen Dingen um die Auseinandersetzung zwischen Wunsch und Wirklichkeit geht. Und wir haben hier beispielsweise auch mit Verben zu tun – etwa mit "einen Wunsch erfüllen oder äußern", "einem Wunsch nachkommen". Bei den Adjektiven spielen "ausdrücklich", "persönlich", "groß" eine Rolle, die zwar eine Nähe zur Sehnsucht aufweisen, aber eben doch eher Wunsch und Wirklichkeit thematisieren. Auf diese Weise können wir die Begriffe doch recht gut voneinander angrenzen, auch wenn sie in einem Synonymwörterbuch unkommentiert als bedeutungsähnlich nebeneinander stehen.

Das Gespräch führte Christoph Paul Hartmann.


Quelle:
DR