"Ich und viele andere haben berechtigte Zweifel daran, dass dieser Missbrauch entsprechend der 'Rituelle-Gewalt-These' stattfindet", sagte der Beauftragte für Sekten- und Weltanschauungsfragen der Evangelischen Kirche von Westfalen im Interview des "Spiegel". "Berichte von ritueller Gewalt und satanistischem Missbrauch werden seit Jahrzehnten mit erheblicher Akribie untersucht, und es gibt trotzdem keinerlei empirische Evidenz."
Der Pfarrer bezog sich damit auf Berichte, nach denen Betroffene gezielt so manipuliert werden, dass sich ihre Persönlichkeit aufspaltet, sie gefügig werden oder bestimmte Dinge wieder vergessen. "Für viele Elemente dieser These gibt es keine Belege", unterstrich Hahn. Aspekte wie die gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit würden von renommierten Psychologen als unplausibel bis unmöglich bezeichnet.
Gewalterfahrungen von Therapeuten suggeriert
Hahn berichtete weiter, im Rahmen seiner Recherchen hätten sich Betroffene bei ihm gemeldet, "die erkannt hatten, dass ihnen diese zum Beispiel satanistisch angehauchten Gewalterfahrungen teilweise von Therapeuten oder anderen Menschen suggeriert worden waren". Als Beispiel verwies er auf eine Frau, die er intensiv seelsorgerisch betreut habe.
"Sie war als Kind wahrscheinlich wirklich missbraucht worden. Nach mehreren Terminen stellte sich heraus, dass sie diese Erfahrungen im Nachhinein mit den satanistischen Bildwelten eines vielfach verkauften Buches verknüpft hatte." Trotz fehlender Beweise gebe es viele Menschen, die weiter an solche Praktiken glaubten, sagte der Sektenbeauftragte.
"Vielmehr wird dann behauptet, es gebe eben keine Beweise, weil die Täter so mächtig und gut vernetzt seien. Wer diese Tätergruppen dann tatsächlich sind, bleibt hingegen extrem diffus."
Radikaler Individualismus in satanistische Gruppen
Hahn betonte, es gebe in Deutschland einige wenige satanistische Gruppen. "Diese sind aber viel zu klein, um den behaupteten Einfluss auszuüben. Sie sind außerdem von ihrer Ausrichtung und Motivation her anders gestrickt. Es geht eher um Überlegenheitsfantasien, radikalen Individualismus oder anarchistische Vorstellungen: ethisch fragwürdig, aber in der Regel ohne konkrete Gewaltkomponente."
Das Bistum Münster hatte Mitte März mit sofortiger Wirkung seine Beratungsstelle Organisierte sexuelle und rituelle Gewalt geschlossen. Es reagierte damit auf einen Bericht des "Spiegel", in dem die Beratungspraxis und "Legenden um den rituellen Missbrauch" kritisiert worden waren.