Die Zahl der Hundertjährigen steigt von Jahr zu Jahr. Und allein im 20. Jahrhundert nahm die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland um etwa 30 Jahre zu - auf 78,9 für Männer und 83,6 Jahre für Frauen.
Auf der anderen Seite: In immer mehr westlichen Ländern wird über aktive Sterbehilfe und eine erleichterte Beihilfe zum Suizid debattiert. Selbst das katholisch geprägte Spanien hat im Juni sowohl Tötung auf Verlangen als auch Beihilfe zum Suizid erlaubt. Auch in Portugal, Italien und Frankreich rückt eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe in den Bereich des Möglichen. Österreich und Deutschland müssen nach Urteilen ihrer obersten Gerichte die Beihilfe zum Suizid ermöglichen.
Wie weit die Alterung der Gesellschaften und der Trend zur Liberalisierung der Sterbehilfe konkret zusammenhängen, wird vielfach diskutiert. Claudia Bausewein, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, jedenfalls beobachtet, dass nicht nur immer mehr sterbenskranke Menschen ihrem Leben ein Ende setzen wollen.
Die Fäden in der Hand behalten
Immer mehr Menschen erkundigten sich nach einem ärztlich assistierten Suizid, obwohl sie weder körperlich noch psychisch schwer erkrankt seien, sagte die Münchner Medizinprofessorin kürzlich der "Süddeutschen Zeitung". "Viele haben das Gefühl, genug erlebt zu haben, lebenssatt zu sein. Sie wollen die Fäden in der Hand behalten und haben Sorge vor einem Kontrollverlust im Alter." Selbstbestimmung werde immer wichtiger.
Diesen Trend spiegelt auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 wider - ein Meilenstein der deutschen Rechtsgeschichte: Karlsruhe leitete aus dem Grundgesetz ein sehr weitgehendes Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab. Zugleich empfahl das Gericht, ein Schutz- und Beratungskonzept zu entwickeln. Es solle Menschen schützen, deren Wunsch zu sterben gar nicht so freiwillig ist: Weil Familie, Gesundheitssystem und Gesellschaft Druck auf sie ausüben, um Kosten zu sparen. Weil, wie Suizidforscher vermuten, hinter 90 Prozent der Suizide eine psychische Erkrankung steckt.
Eine komplizierte Aufgabe für den Bundestag. Trotz zahlreicher Appelle und einer Orientierungsdebatte hat es das Parlament nicht mehr geschafft, vor der Wahl ein neues Gesetz auf den Weg zu bringen.
Das wird eine wichtige Aufgabe des neuen Parlaments sein.
"Teilweise rechtsfreier Raum"?
Zur Zeit herrscht vielfach Ratlosigkeit, etwa in der Frage, ob Altenheime Sterbehelfern Zugang gewähren sollen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach spricht gar von einem "teilweise rechtsfreien Raum". Derzeit liegen vier Regelungsvorschläge vor: Die Abgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP) und Petra Sitte (Linke) sowie Lauterbach wollen "klarstellen, dass die Hilfe zur Selbsttötung straffrei möglich ist", zugleich aber Missbrauch verhindern. Renate Künast und Katja Keul von den Grünen wollen vor allem den Zugang zu lebensbeendenden Medikamenten regeln.
Beide Entwürfe wollen sicherstellen, dass der Entscheidung ein dauerhafter "autonom gebildeter freier Wille" zugrunde liegt.
Zwei weitere Vorlagen gehen stärker von der Schutzverpflichtung des Staates aus. Stephan Pilsinger (CSU), Ansgar Heveling (CDU), Lars Castellucci (SPD) und Benjamin Strasser (FDP) fordern, dass Suizidwillige Beratung und Begutachtung erhalten. Der Arbeitsentwurf eines "Selbsttötungshilfegesetzes" aus dem Haus von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Hilfe zur Selbsttötung grundsätzlich wieder unter Strafe stellen, aber Ausnahmen vorsehen.
Auch die Wissenschaft hat Stellung bezogen: Autor des Papiers der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ist unter anderem Andreas Voßkuhle, der als Präsident des Bundesverfassungsgerichts das Urteil führend mitschrieb. Die Wissenschaftler plädieren dafür, dass kommerzielle Angebote der Suizidassistenz sowie Werbung dafür verboten werden. Alle assistierten Suizide müssten in einem Register erfasst und ausgewertet werden. Überprüfung der Freiverantwortlichkeit und Durchführung der Suizidassistenz sollen personell und organisatorisch getrennt sein. Ärzte verschiedener Disziplinen müssten sicherstellen, dass psychische oder medizinische Gründe eine autonome Entscheidung nicht infrage stellen.