Moussa Sarr kann seinen Sohn Madior nicht oft genug warnen: "Versuche bloß nicht, ohne gültige Papiere nach Europa zu gehen." Und fügt dann hinzu: "Das ist doch das, woran hier alle Jungen denken." Der 24-jährige Student schaut auf sein Handy, hört dem Vater aber zu und nickt. Die Familie wohnt in Hann, einem dicht besiedelten Stadtteil von Dakar, der senegalesischen Hauptstadt. Nur ein paar Minuten von hier entfernt ist der Strand, an dem die Pirogen liegen. In solchen Fischerbooten werden bis heute vor allem junge Männer transportiert, die versuchen, die Kanarischen Inseln zu erreichen. Eine Überfahrt kostet umgerechnet zwischen 600 und 750 Euro.
Gefährliche Atlantikroute
Die gefährliche Atlantikroute ist seit 2020 wieder stark frequentiert. Durch den Sahel in Richtung Norden zu gelangen, ist aufgrund von Corona-Schutzmaßnahmen wie geschlossenen Grenzen und fehlenden Transportmöglichkeiten schwieriger geworden. Auch breiten sich Terrorgruppen aus, die von Migranten Geld erpressen.
Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen 2021 auf den Kanarischen Inseln 22.316 Migranten an; 2018 waren es lediglich 1.307. In die Höhe geschnellt sind auch die Zahlen derer, die die Inseln nicht erreichen. Die spanische Organisation Caminando Fronteras sprach im Januar von mehr als 4.400 Toten. Im vergangenen Jahr gab es immer wieder Nachrichten von gekenterten Booten. Die meisten jedoch sterben unbeachtet von der Öffentlichkeit.
Moussa Sarr, Vorsitzender der "Kommission der Eltern, die ein Kind durch Migration verloren haben", kennt die schmerzlichen Verluste. Er hat einen Bruder verloren, der dreimal versuchte, Spanien zu erreichen. Beim dritten Versuch hatte er seine Medikamente nicht dabei, wurde krank und starb bei der Überfahrt. Ein Bekannter, der ebenfalls im Boot saß, rief ihn später an. "Er sagte mir, dass sie die Leiche meines Bruders über Bord werfen mussten. Sie konnte nicht in der Piroge verwesen."
Eine Frage der Perspektiven
Seitdem spricht Moussa Sarr in seinem Viertel Hann über das Risiko und ist Mitglied der 2006 gegründeten Organisation Migration und Entwicklung (Migdev), ein Partner der linksparteinahen Rosa-Luxemburg-Stiftung. Migdev-Präsident ist Magath Diop. "Wir klären junge Menschen auf und setzen uns dafür ein, dass die Rechte von Migranten eingehalten werden." Wichtig sei auch, Perspektiven zu schaffen, damit der Weg nach Europa gar nicht erst attraktiv wird.
Doch das ist schwierig. Laut nationaler Statistikagentur lag die Arbeitslosigkeit im Senegal im vierten Quartal 2021 bei knapp 25 Prozent. Fischfang - für viele Menschen einst Haupteinnahmequelle - ist kaum noch möglich. Grund dafür sind Fischereiabkommen mit der EU, China und Russland. Auch der Klimawandel und die Verschmutzung der Ozeane verschlechtern die Situation.
Maßnahmen bisher ohne Erfolg
Durch einen Bevölkerungsanstieg von 2,7 Prozent drängen jährlich etwa 200.000 Menschen auf den Arbeitsmarkt. Das steht Student Madior Sarr noch bevor, der derzeit ein Master-Studium in Arabisch absolviert. Auf die Frage, wo er danach sein Geld verdienen wird, zuckt er mit den Schultern. "Es sind auch die Hochschulabsolventen, die gehen wollen." Im Moment hilft er manchmal auf dem Bau. "Aber es ist unangenehm, die Familie nicht unterstützen zu können und immer noch abhängig zu sein." An die Gründung einer eigenen Familie denkt er lieber nicht.
Dabei fließen seit 2005 hohe Summen nach Senegal, hauptsächlich um die irreguläre Migration einzudämmen; einerseits durch Grenzkontrollen, andererseits durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Eine Untersuchung der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung spricht von rund 305 Millionen Euro. Die Soziologin Selly Ba, die das Programm Demokratie und Migration der Stiftung koordiniert, sagt allerdings: "Viel geändert hat das nicht. Die Summen werden erhöht, doch die Menschen wollen das Land weiter verlassen."
Traum von Europa blendet Gefahren aus
Angeboten werden etwa mehrwöchige Trainings, die in eine Selbstständigkeit führen sollen. Allerdings fehlt den Teilnehmern oft das Startkapital - oder dafür gedachte Zuschüsse werden gleich in die nächste Überfahrt investiert. Überweisungen von Migranten in die Heimat sind zentral für die Wirtschaft; laut Weltbank machten sie 2020 knapp 10,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.
Bilder, die Erfolgsgeschichten suggerieren, befeuern den Traum von Europa zusätzlich. Gefahren würden hingegen ausgeblendet, sagt Magath Diop: "Die jungen Menschen kennen das Risiko. Trotzdem werden sie vom Elend hier und der Vorstellung angetrieben, dass Europa das Ende der Probleme bedeute."