Medizinethiker Beck fordert Rücksicht auf Ungeimpfte

"Sie sind doppelt benachteiligt"

Die Impfgeschwindigkeit in Deutschland nimmt zu. Rechtfertigt das Sonderrechte für Geimpfte? Die Diskussion darüber ist groß. Der Wiener Medizinethiker Matthias Beck sähe darin eine doppelte Benachteiligung für Ungeimpfte.

Junge Menschen mit Masken warten vor einem Geschäft / © DisobeyArt (shutterstock)
Junge Menschen mit Masken warten vor einem Geschäft / © DisobeyArt ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Welche Freiheiten sollen Geimpften zurückgegeben werden? Wie sehen Sie das aus ethischer und juristischer Sicht?

Prof. Dr. Dr. Matthias Beck (Theologe und Medizinethiker an der Universität Wien): Fangen wir mal mit der Ethik an. Da gibt es einen alten Grundsatz von Aristoteles: Gleiches ist gleich zu behandeln und Ungleiches ungleich. Unter dem Aspekt der Gleichheit hätten alle dasselbe Recht, möglichst schnell geimpft zu werden. Nun haben wir aber nicht genügend Impfstoffe zur Verfügung. Deswegen haben wir in Österreich von der Bioethik-Kommission, wie auch der Deutsche Ethikrat und die Ständige Kommission eine Priorisierungsliste erstellt.

Das Ungleiche ist, dass ältere Patienten ungleich schwerer gefährdet sind, schwerere Verläufe haben, Todesfälle eintreten. Also war es richtig, den Älteren zunächst die Impfstoffe zu geben, die wir haben. Wenn wir jetzt immer mehr Impfstoffe haben, dann wäre die erste richtige Maßnahme, was auch in Deutschland angedacht ist, die Priorisierung zu öffnen und dass auch Hausärzte und die Landärzte impfen können. Wenn genug Impfstoff da ist, sollte man die Priorisierungsliste runterfahren.

Der zweite Punkt des ethischen Gerechtigkeitsprinzips: Wenn die Geimpften tatsächlich nicht mehr infektiös sind, sollte man ihnen die Rechte, die ihnen zustehen, zurückgeben. Ein Geschäft zu öffnen, abends ins Restaurant zu gehen und so weiter. Nicht, weil der Staat jetzt so großzügig ist oder ungerecht vorgeht, sondern weil er das muss. Um Rechte einzuschränken braucht es Rechtfertigungsgründe.

DOMRADIO.DE: Da könnte man rein theoretisch sagen: Jetzt sind die schon früher geimpft worden und jetzt dürfen die auch noch ins Kino gehen.

Beck: Genau das wäre die doppelte Ungerechtigkeit. Und genau darüber wird diskutiert. Wir müssen einen Mittelweg finden. Die einen bekommen früher den Impfstoff als die anderen. Und jetzt bekommen sie zusätzlich noch Privilegien, früher ins Theater und ins Restaurant gehen zu können.

Allerdings muss man dazu sagen: Erst mal muss der Staat das offiziell zulassen, dass die Theater, die Museen, die Ressorts öffnen. Also unter Gerechtigkeitsaspekten kann man darüber streiten, ob das gerecht ist, dass die einen doppelt bevorzugt sind.

DOMRADIO.DE: Das hat zwei Seiten, die ethische und die juristische Seite. Wie ordnen Sie die juristische Seite ein?

Beck: Dass der Staat nur so lange diese restriktiven Maßnahmen aufrechterhalten kann und darf, wie wirkliche Gefährdung ausgeht. Wenn von einem Geimpften, was nicht sicher ist, die Gefährdung nicht mehr so groß ist, dass man sich selbst und andere infiziert, muss der Staat die zustehenden Rechte baldmöglichst zurückgeben. Das ist also keine Kann-Bestimmung, sondern ein Muss, wenn der Rechtfertigungsgrund wegfällt. Also juristisch ist das ziemlich eindeutig.

Ethisch kann man darüber diskutieren, ob es nicht eine doppelte Ungerechtigkeit ist. Und das wäre mein Resümee, dass sich jetzt die Geimpften, die sozusagen in der besseren Stellung sind, weil sie schon geimpft sind und mehr Rechte zurückbekommen, Rücksicht nehmen sollten. Vielleicht noch vier Wochen oder zwei Monate, auf die noch nicht Geimpften, die eben doppelt benachteiligt sind, Rücksicht nehmen. Das wäre meine Brücke zwischen Ethik und Recht.

DOMRADIO.DE:  Deutschland will spätestens im Juni die Impfprioriserung aufheben. Ist das eine gute Idee oder fängt damit vielleicht ein Wettrennen und ein Hauen und Stechen an. Und falls ja, was kann man dann dagegen unternehmen?

Beck: Das ist eine große Gefahr, die wir von Anfang an gesehen haben. Wir in Österreich, wie auch der Deutsche Ethikrat sagen, das muss vom Staat organisiert werden. Der Staat muss das kontrollieren, denn sonst passiert ein Tohuwabohu. Wenn wir öffnen, die Priorisierung wegnehmen und auch die Hausärzte impfen können und nicht genug Impfstoffe haben, dann wird es einen Run auf die Arztpraxen geben.

Dann müssen die Arztpraxen die Patienten wieder zurückschicken, weil sie nicht genug Impfstoffe haben. Die Priorisierung aufzugeben geht Hand in Hand, mit der Menge des verfügbaren Impfstoffs. Wenn Impfstoff da ist und wenn die Praxen das leisten können, dann wird es offensichtlich gehen. Wenn das nicht der Fall ist, wird es einen Trubel geben. Die Leute sagen dann "die Priorisierung ist aufgegeben, ich habe ein Recht und ich stehe vor ihrer Tür, sie müssen mich impfen!"

Und der Arzt muss sagen: "Ich kann es nicht, weil ich keinen Impfstoff habe". Das ist eine Korrelation. Wenn genug Impfstoff da ist, kann man die Priorisierung aufgeben. Wenn nicht, sollte man das sehr vorsichtig tun. Sonst gibt es - ich übertreibe jetzt mal - Schlägereien in Arztpraxen.

Das Interview führte Uta Vorbrodt.


Prof. Dr. Dr. Matthias Beck (privat)
Prof. Dr. Dr. Matthias Beck / ( privat )
Quelle:
DR