DOMRADIO.DE: Bei dem Anschlag von vier jungen Neonazis auf ein Wohnhaus kamen am 29. Mai 1993 fünf türkische Mädchen und Frauen im Alter von vier bis 27 Jahren ums Leben. Acht Menschen wurden schwer verletzt. An diesem Dienstag wird der Opfer mit einer Reihe von Gedenkveranstaltungen gedacht. Was ist für den Tag geplant?
Tim Kurzbach (Oberbürgermeister von Solingen): Es gibt zunächst auf Einladung des Ministerpräsidenten eine Veranstaltung in der Staatskanzlei. Dort werde ich schon mit der Familie Genç hinreisen. Dann wird es mittags eine Demonstration von Schülerinnen und Schülern der verschiedenen Solinger Schulen geben. Um 16 Uhr wird das zentrale Gedenken am Mahnmal an der Mildred-Scheel-Schule abgehalten, wo wir Jahr für Jahr der ermordeten jungen Frauen gedenken.
Um 20 Uhr beginnen wir in der evangelischen Stadtkirche – und das finde ich eigentlich eins der schönsten Zeichen dieses Tages – mit einem gemeinsamen Gebet der Religionen. Alle Religionen werden miteinander für den Frieden und die Verständigung beten. Und danach wird mit der Familie, der islamischen und der jüdischen Gemeinde und den christlichen Kirchen ein Iftar-Fastenbrechen begangen. Und anschließend beschließen wir den Tag mit einem Schweigemarsch zu jenem Ort an der Unteren Wernerstraße, wo dieses schreckliche und grausame Geschehen damals passiert ist, damit deutlich wird: Wir trauern sehr intensiv um die fünf Verstorbenen. Das ist der Gedanke, der uns in Solingen sehr prägt – 25 Jahre danach sind wir immer noch traurig und stehen unfassbar vor dem, was damals geschehen ist.
DOMRADIO.DE: Was hat sich in den vergangenen 25 Jahren in Solingen verändert. Glauben Sie, ein solcher Anschlag wäre auch heute noch denkbar in Solingen?
Kurzbach: Solingen ist eine Stadt, in der Menschen aus über 140 Nationen jeden Tag friedlich miteinander zusammenleben. Ich glaube, dass uns das, was damals in Solingen passiert ist, nochmal mehr sensibilisiert hat. Wir haben Integrationskonzepte, wir haben aktive Gesprächskreise und das ist nicht ritualisiert, sondern Woche für Woche erlebbar und spürbar. Solingen war damals keine rechte Hochburg. Es hat Solingen getroffen, aber es hätte genauso gut in jeder anderen Stadt sein können.
Es hat sich aber unmittelbar in den Pfingsttagen vor 25 Jahren eine große Solidarität breit gemacht – Initiativen sind gegründet worden, Spenden sind gesammelt worden, Notfalltelefone wurden eingerichtet, Bürgerinnen und Bürger haben bei ausländischen Mitbürgern übernachtet, wenn sie Angst hatten – alles aus der Zivilgesellschaft heraus. Und das hat sich 25 Jahre immer so weiterentwickelt. Für mich zuletzt noch spürbar beim Zustrom der Menschen, die vor Krieg und Terror hierhin geflüchtet sind. Über 3.000 Menschen haben wir in der Stadt aufgenommen. Und ich sage ganz deutlich: Hätten wir nicht diese breite zivilgesellschaftliche Offenheit gehabt, hätten wir es in Solingen als Stadt und als Staat alleine nicht geschafft.
DOMRADIO.DE: Allerdings wurde jetzt im Vorfeld ziemlich kontrovers diskutiert, ob es denn richtig sei, den türkischen Außenminister zu den Gedenkveranstaltungen einzuladen. In der Türkei wird im Juni gewählt und Kritiker befürchten, der türkische Außenminister könnte seine Ansprache zu Wahlkampfzwecken missbrauchen. Was sagen Sie dazu?
Kurzbach: Das hat uns zuerst erschrocken, das stimmt schon. Vor allem aber in Hinblick auf den möglichen Wahlkampf in der Türkei. Heute, nach verschiedenen Gesprächen kann ich sagen, ich glaube, der Außenminister hat verstanden, dass es eben hier um ein trauerndes Gedenken geht und dass sich jemand, der das nicht beachtet, extrem unwürdig gegenüber dem Gedenktag verhalten würde. Ich gehe fest davon aus, dass er das respektieren wird.
Ich will Ihnen aber auch sagen, dass es eigentlich nicht so sehr um den türkischen Außenminister geht, sondern daran wird immer noch deutlich, dass wir die abschließende Frage, wie gehen wir mit Integration, insbesondere von hunderttausenden türkischen Migranten, in unserer Gesellschaft eigentlich um. Wir gehen wir mit Menschen um, die aus einer anderen Kultur hier heimisch sind? Wie ist das politische Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei? Wie kann man Kritik aneinander auf Grundlage unserer Werte und unserer Verfassung üben, aber damit auch im Dialog bleiben?
Wir müssen, Deutsche wie Türken, zusammenhalten, wir müssen kritisieren, wo es notwendig ist, aber wir müssen uns auch Kritik gefallen lassen, weil wir eben nicht immer gerecht mit türkischen Migranten umgegangen sind. Doch zusammen sind wir stärker als das, was uns trennt. Diese Debatte muss neu belebt werden. Und wenn das ein Zeichen von den Gedenkveranstaltungen sein kann, könnte das ein gutes Signal für die Zukunft sein.
Das Interview führte Verena Tröster.