Familienberaterin über Schwierigkeiten und Chancen der Corona-Krise

"Soziale Kompetenzen könnten jetzt richtig trainiert werden"

Homeoffice und Schule zu Hause, keine Treffen mehr mit Freunden – Familien rücken in diesen Tagen enger zusammen. Das bietet Chancen auf mehr Nähe, betont Heidi Ruster, Ehe- und Familienberaterin im Erzbistum Köln.

Symbolbild Familie (shutterstock)

DOMRADIO.DE: Welche Chancen bietet diese Situation Familien? 

Heidi Ruster (Leiterin der katholischen Beratungsstelle für Ehe-, Familien- und Lebensfragen in Bonn): Wir sind ja gerade am Anfang dieses großen Schicksalsschlages. Und es hat uns insofern noch nicht so hart getroffen, dass wir nicht immer nur zu Hause sein müssten. Wir sind zwar sehr viel enger zusammen, wenn Vater und Mutter Home-Office haben. Die Kinder sind nicht in der Schule und im Kindergarten. Und wir haben so natürlich die Chance auf mehr Nähe, mehr Gestaltung am Tag, was sonst ja nie ging. Immer war einer unterwegs. Es mussten Absprachen getroffen werden, es war sehr viel Orga nötig. Aber alles, was anfällt, kann jetzt mit Ruhe angegangen werden. Das ist natürlich eine Chance. Kinder erleben Vater und Mutter beim Essen – mittags sogar. Das ist schon außergewöhnlich für die allermeisten Familien.

Auch die Rituale, die man mit der Zeit gesammelt hat, aber die oft im Alltag einfach nicht so gelebt werden können: dass man am Abend zum Beispiel Zeit hat, wirklich noch eine Geschichte zu lesen oder wirklich mal wieder mit Besonnenheit zu beten und zu singen, die Kleinen in die Nacht zu begleiten, ohne dass man anschließend schon wieder was machen muss als Eltern. Das ist eigentlich auch eine geschenkte Zeit, eine geschenkte Möglichkeit. Bei all dem schönen Wetter, was wir gerade haben, gibt es eigentlich von daher Anlass, auch einmal die Chancen zu sehen und zu genießen. 

DOMRADIO.DE: Ich kann mir aber vorstellen, dass das für Kinder in der Pubertät jetzt wirklich hart ist, bei den Eltern sein zu müssen. Denn Jugendliche nabeln sich vom Elternhaus ab und sind am liebsten mit ihren Freunden zusammen. Ist das die Chance für Eltern, sich ihren Kindern wieder zu nähern oder wird es vor allem viel Streit geben? 

Ruster: Die besondere Situation für Jugendliche, die jetzt zu Hause sein müssen, ihre Freunde, ihre Clique nicht zu treffen, ist schon außerordentlich schwer. Es ist auch für kleine Kinder nicht leicht, wenn sie auf die Freunde verzichten müssen. Aber Jugendliche haben eigentlich das größte Wohlbehagen, wenn sie miteinander sind. Sie brauchen es wirklich wesentlich. Und wenn das nicht geht, ist das traurig.

Aber wie in normalen Zeiten gilt natürlich jetzt in der Corona-Zeit auch der Grundsatz: Man muss nicht alles gemeinsam machen in der Familie. Man kann vielleicht auch mal miteinander aushandeln und besprechen, wie ein zeitlicher Ablauf, eine Struktur in den Tag zu kriegen ist. Da sollten die Jugendlichen wirklich gut mitdenken. Und das sollte verbindlich eingehalten werden. Man muss das ja nicht gleich für die ganze Zeit verabreden, aber immer mal für eine Woche.

Das heißt: Nicht bis in den Mittag hinein schlafen und dann irgendwann essen für sich alleine, sondern Struktur schaffen. Das hilft und gibt ein Geländer für beide. Dass auch die Eltern in Ruhe denken können: Ja, gut. Wenn er sich jetzt zurückzieht, ist er auch mit Schulaufgaben beschäftigt. Diese Verlässlichkeit sollte bleiben, und da kann Vertrauen wachsen. Wenn Jugendliche merken, dass sie akzeptiert werden, dass man auch einfach mal die Tür hinter sich zumachen kann und die Eltern kommen nicht einfach rein und gucken, dann wächst das Vertrauen und braucht immer weniger Kontrolle. 

DOMRADIO.DE: Bei Patchworkfamilien oder Eltern, die getrennt leben und ihre Kinder normalerweise abwechselnd sehen, bringt das aber jetzt natürlich auch Probleme. 

Ruster: Wie gesagt, noch sind wir ja nicht in einer Ausgangssperre. Wir können uns noch sehen, und die Familien, wenn es wirklich reduzierte Kontakte sind, können nach wie vor diesen Rhythmus beibehalten. Sie müssen natürlich besonders gut auf die Hygienevorschriften achten und möglichst den Außenkontakt vermeiden, damit nicht noch mehr Leute mit einbezogen werden. Aber der Vater oder die Mutter, die alle 14 Tage den Kontakt haben, werden den sicher im Augenblick auch weiter pflegen dürfen. 

DOMRADIO.DE: Sie beraten gerade viel online und telefonisch. Haben denn viele Familien Schwierigkeiten mit der Situation der Nähe? Es wird ja immer gesagt, die Scheidungsrate werde nach der Corona-Krise hochgehen.

Ruster: Die Schwierigkeiten befürchten wir. Aber so wie der chinesischen Krisenprovinz Wuhan, wo jetzt nach Öffnung der Standesämtern die Menschen Schlange stehen, um ihre Scheidungsanträge einzureichen, so - hoffe ich - wird es bei uns nicht kommen. Im Augenblick gibt es ja noch viele Dinge, die einem möglich sind. Man kann eben raus gehen, man ist nicht so aufeinander eingeschworen.

Menschen, die einen schweren Konflikt hatten und dann verurteilt sind, ihre ganze Zeit miteinander zu verbringen, haben es natürlich schwer. Sie müssen wirklich die Disziplin haben, diese Dauer-Streitigkeiten einstweilen wie im Waffenstillstand beiseite zu räumen und auch nochmal auf "Reset" zu stellen - auf Normalität, vielleicht sogar auf Lächeln und positives Klima. Dann, hoffe ich, kann man mit sehr viel Achtsamkeit und Rücksichtnahme einiges machen. 

DOMRADIO.DE: Wenn Familien jetzt auf engem Raum zusammen sind, was können die für sich persönlich mitnehmen, für den Alltag nach der Krise? 

Ruster: Die geschenkte Nähe, diese Schätze aus der Zeit, sollten unbedingt gesammelt werden. Ich denke manchmal, dass es ganz schön wäre, auch ein Tagebuch zu führen. Es ist ja, wie wenn man als Familie auf einem großen Ozean, aber in einer gut ausgestatteten Segelyacht unterwegs ist, ab und zu mal andere trifft und winkt, im Funkkontakt steht. Aber es ist schon ein Ausnahmezustand.

Das ist ein globaler Schicksalsschlag, den man auch vielleicht mal mit dieser besonderen Brille aufnehmen sollte, sich Notizen macht und auch spürt: Was ist jetzt gut? Wie geht es mir? Aber wie geht es mir auch mit meinen Lieben? Wo gibt es für mich Empfindlichkeiten? Was habe ich daraus gelernt? Was habe ich versucht, auch anders zu machen? Das geht am besten, wenn man es ein bisschen reflektiert. Entweder in einer kleinen Familienkonferenz, die man auch nach der Zeit natürlich noch beibehalten könnte. Und man kann diese Erkenntnisse eben auch in einem kleinen Familientagebuch festhalten, damit es nicht verloren geht. Das ist so besonders, dass wir jetzt noch gar nicht so ermessen können, was da noch alles an Besonderheiten in dieses Tagebuch kommt. Auf jeden Fall die Kostbarkeiten der Nähe, der Quality-Time, das Lernen, wirklich Konflikte auch mal beiseite zu stellen. Eine andere Art der Großherzigkeit, des liebevollen achtsamen Umgangs oder aber auch der Versöhnung und der Vergebung. Das sind natürlich Kompetenzen, die könnten jetzt richtig trainiert werden. 

DOMRADIO.DE: Die Beratungsstelle für Ehe- Familien- und Lebensfragen ist ja keine Telefonseelsorge, sondern Sie beraten die Menschen in der Beratungsstelle. Worin besteht denn da der Unterschied? 

Ruster: Die Telefonseelsorge kann man Tag und Nacht anrufen. Dann nämlich, wenn die Hütte brennt, wenn es wirklich akut ist, also im Notfall, und findet dort immer ein offenes Ohr. Die Telefonseelsorge selber vermittelt aber dann bei dauerhaften Konflikten immer an uns. Wir bieten als Beraterinnen und Berater natürlich einen anderen Rahmen. Wir gehen mit unseren Klienten einen ganz festen Kontrakt ein. Da kann sich was entwickeln. Wir bleiben immer dieselben. Das ist ganz wichtig. Mit dieser Beziehung wird im Grunde schon gearbeitet, und das passiert in der Beratung anders als am Telefon. 

DOMRADIO.DE: Wie ist denn das in der Situation im Moment? Sind es die üblichen Themen, mit denen die Menschen zu Ihnen kommen. Oder verändert sich etwas durch die Corona-Krise? 

Heidi Ruster: Natürlich reden wir auch über die Corona-Krise. Und andere Themen sind schon in ihrer Bedeutung ein wenig nach hinten getreten. Das sehe ich bei den Paaren oft, dass die Heftigkeit, mit der oft bei mir im Zimmer deutlich gehandelt wird und auch gestritten wird. Das erlebe ich am Telefon anders. Dann müssen die Paare sich zusammensetzen, recht nah ans Telefon, laut stellen und sehr diszipliniert abwarten, bis ich mich mal an die eine, mal an den anderen gewandt habe. Und dann kriege ich schon mit, dass das ein ganz anderer Umgang ist. 

DOMRADIO.DE: Das heißt, Sie können nichts durch Blickkontakt machen? 

Heidi Ruster: Genau, und Paare können sich auch nicht so ins Wort fallen. Können sie natürlich schon, aber tun sie nicht. Ich sehe einen achtsameren, vorsichtigeren Umgang. Alle sind sich der Besonderheit bewusst, sind sehr fokussiert, sehr konzentriert, achten auf die Worte. Das hat sich verändert. 

DOMRADIO.DE: Was bedeutet denn die aktuelle Situation für Menschen, die jetzt schon in einer persönlichen Krise stecken? Jetzt ist nicht nur in ihnen selbst alles aus dem Gleichgewicht, sondern auch noch die Welt, in der sie sich befinden. 

Heidi Ruster: Das stimmt. Angst ist wirklich ein großer Gegner, wie ein Dämon. Der ist bei jedem anders. Bei dem einen ist er groß, beim anderen klein. Es reicht von einer Sorge um die Infektion bis hin zu existenziellen Nöten. Das sind echte Ängste, die damit verbunden sind - um den Arbeitsplatz beispielsweise bis hin zur Angst vor dem Tod. Das kann eine große Rolle spielen und es verengt. Angst macht eng. Das steckt schon im Wort. Und oftmals fehlt die Weite auch der Mut, damit nach außen zu gehen, es mitzuteilen, in die sozialen Kontakte zu gehen. Dazu können wir in einem solchen Gespräch ermutigen.

Auch ein Telefonat kann man öfter führen. Ich merke schon, dass ich mit einigen viel intensiver und auch öfter in Verbindung bin. Die, die ich kenne, schon aus der Face-to-Face-Beratung, zu denen habe ich natürlich einen unmittelbaren Draht, kann mir ihre Welt vorstellen. Wir können uns deshalb gemeinsam auf die Suche machen nach echten Kraftquellen. Was war denn in der Zeit vor Corona immer schön, hat mir Freude gemacht? Und was habe ich jetzt einfach vergessen bzw. was hat dieser Angst-Dämon einfach vertrieben? Ich muss lernen, diesen Angstgegner wirklich zu bändigen, einzugrenzen, zu zähmen. Ich kann das nicht verhindern. Angst ist einfach da, aber ich kann sie handeln und vielleicht an die Kette nehmen. Ich kann Corona-freie Zeiten in meinem Tag gestalten. Damit beschäftige ich mich am Telefon mit den Klienten und überlege, wie ich zum Beispiel Informationen, die ich brauche - auch über die augenblickliche Lage - einfach mal auf 20-Uhr-Nachrichten, vielleicht noch mit der extra Sendung danach, beschränke und nicht beim Mittagessen oft schon das Radio laufen habe. Das kann dieses Angst-Tier, diesen Dämon, nähren. Und davor kann ich mich schützen.

Das Interview führte Dagmar Peters.


Heidi Ruster / © Anja Sabel / Kirchenbote Osnabrück
Heidi Ruster / © Anja Sabel / Kirchenbote Osnabrück
Quelle:
DR