Sozialpsychologe: Holocaust ist Stachel im Nationalgefühl

 (DR)

Der Holocaust bleibt nach Ansicht des Sozialpsychologen und Antisemitismus-Forschers Rolf Pohl ein Stachel im deutschen Nationalgefühl. "Der Schatten von Auschwitz stört", sagte der Professor der Leibniz-Universität Hannover in einem Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd) zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar. Je stärker Menschen in Deutschland ihre nationale Identität betonten, desto schwerer täten sie sich mit der Erwähnung von Auschwitz. Daran ändere auch nichts, dass die Leugnung des Holocaust offiziell unter Strafe stehe.

Party-Patriotismus

Ein neues Nationalgefühl sei in Deutschland seit der Wiedervereinigung in den 90er Jahren entstanden, sagte Pohl. Der "Party-Patriotismus" im Zuge der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 habe diesen Trend noch verstärkt. Dabei würden unangenehme Seiten jedoch oft ausgeblendet. Es herrsche ein Lebensgefühl nach dem Motto: "Ich möchte endlich wieder stolz sein, ein Deutscher zu sein, ohne ständig an Auschwitz denken zu müssen."

 Eine am Wochenende bekannt gewordene Umfrage der Bertelsmann Stiftung bestätigt diese Einschätzung: Danach wollen 58 Prozent der befragten Deutschen einen Schlussstrich unter die Holocaust-Debatte ziehen.

Knappes Fünftel antisemitisch

Nach den ihm vorliegenden Untersuchungen sei der Antisemitismus in Deutschland in den vergangenen Jahren zwar nicht gewachsen, sagte Pohl. "Er stagniert aber weiterhin auf beängstigend hohem Niveau." Nach wie vor gebe es einen stabilen Bodensatz von 15 bis 20 Prozent Antisemiten. 40 bis 50 Prozent der Deutschen hegten weiterhin antisemitische Klischees, ohne direkt antisemitisch zu sein. Dazu gehörten Stereotypen, dass Juden "irgendwie anders" seien oder die Finanzwelt beherrschten. Gefährlich werde es, wenn diese Klischees mit Bewertungen verbunden würden.

Typisch sei, dass es viele weit von sich wiesen, selbst antisemitische Einstellungen zu haben: "Die Schlimmen sind immer die anderen." Im kulturellen Gedächtnis der Deutschen seien antisemitische Klischees jedoch tief verankert. Diese Wurzeln mitsamt den dazu gehörenden Ängsten und eigenen nationalen Größenfantasien müssten freigelegt werden, um den Antisemitismus zu überwinden.

(Quelle: epd)