domradio.de: Während SPD-Chef Sigmar Gabriel in Heidenau auch harte Strafen für rechte Gewalttäter gefordert hat, ließ Kanzlerin Merkel über ihren Sprecher Steffen Seibert erklären, die Vorkommnisse von Heidenau seien abstoßend und beschämend. Reicht das nicht?
Wolfgang Thierse: Es geht ja nicht um einen Wettbewerb, sich mit scharfen Worten zu überbieten. Es geht schon darum, dass die Chefin der Bundesregierung ein deutliches Zeichen der Solidarität, der Zuwendung zu den Flüchtlingen und der entschiedenen Ablehnung von Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt setzt. Das kann man von einer Kanzlerin erwarten.
domradio.de: Was sollte die Kanzlerin in Ihren Augen jetzt ganz dringend tun?
Wolfgang Thierse: Soweit ich gelesen habe, hat die Kanzlerin bisher noch kein Flüchtlingsheim besucht. Ich finde das erstaunlich und befremdlich. Da sollte sie mal etwas nachholen.
domradio.de: Sie fänden es auch gut, wenn die Kanzlerin jetzt beispielsweise nach Heidenau fahren würde?
Wolfgang Thierse: Sie hat zu entscheiden, ich welcher Form sie das tut. Es muss keinen Tourismus nach Heidenau geben. Dort sind in besonderer Weise die sächsische Landesregierung, der Innenminister und die Polizei gefragt, Flüchtlinge zu schützen und die Rechtsextremen und Gewalttäter in die Schranken zu weisen und gegebenenfalls vor Gericht zu bringen.
domradio.de: Die Flüchtlingsfrage ist die Herausforderung für die deutsche Politik und Gesellschaft. Warum, meinen Sie, tun sich speziell im Osten der Republik offensichtlich doch ganz viele Menschen schwer damit?
Wolfgang Thierse: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit gibt es nicht nur in Ostdeutschland. Aber ist Ostdeutschland ist das erschreckende Phänomen verbreiteter, sichtbarer, lautstärker und aggressiver. Das ist beunruhigend. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Das hat mit der Vorgeschichte der DDR und der autoritären Prägung durch eine kommunistische Erziehungsdiktatur zu tun. In der DDR konnte man - eingesperrt wie wir Ostdeutschen waren - keine Erfahrungen mit Fremdem und Fremden machen. Da ist keine vergleichbar starke, selbstbewusste und demokratieerprobte Bürgergesellschaft wie im Westen entstanden. Und man darf die Härte des Umbruchs nicht vergessen. Viele Menschen sind in den vergangenen 25 Jahren verunsichert worden. Die sozialen und ökonomischen Probleme in Ostdeutschland sind ohne Zweifel größer als in Westdeutschland. Das hat soziale Unsicherheit bis an den Rand sozialer und ideeller Entwurzelung erzeugt. Auch das muss man benennen. Das war eine Atmosphäre, in der dann die rechtsextremen Propagandisten erfolgreich tätig werden konnten. Je unsicherer Menschen sind, desto einfacher möchten sie die Antwort haben und umso radikaler können sie nach dem Motto "Die Deutschen zuerst und dann die Ausländer" verführbar sein. Viele fragen sich, warum wir Geld für Ausländer ausgeben, wo wir doch selber welches brauchen. Das soll nichts entschuldigen und nichts rechtfertigen. Es erklärt nur, warum mit DDR-Vorgeschichte und mit der Erfahrung von ökonomischer und sozialer Unsicherheit, Menschen für rechtsextreme Botschaften empfänglicher werden und bereiter sind, Gewalt auszuüben.
domradio.de: Sie sagen auch, dass viele im Land und besonders die sächsische Landesregierung das Problem des Rechtsextremismus völlig unterschätzt haben. Die Übergriffe auf Flüchtlingsheime zeigen das. Wie kann jetzt noch gegengesteuert werden?
Wolfgang Thierse: Ich war vor einem Dutzend Jahren in vielen ostdeutschen klein- und mittelgroßen Städten unterwegs, um demokratische Initiativen gegen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu unterstützen. Damals scholl mir von der sächsischen CDU-Politik immer entgegen, ich sei ein Nestbeschmutzer und es gäbe das Problem gar nicht. Diese CDU-geführte sächsische Landesregierung hat das Problem nie wahr haben wollen. Umso größer ist es jetzt. Und jetzt ist natürlich die Härte des Staates gefragt. Es muss viel Aufklärungs- und Erklärungsarbeit geleistet und politische Bildung ausgebaut werden. Aber unmittelbar ist natürlich der Schutz der Flüchtlinge das Wichtigste. Und dann wünsche ich mir eine richtige Demokratie-Offensive, die in Sachsen stattfindet. Menschen müssen mit ihren Ängsten und Vorurteilen ernst genommen werden. Im Gespräch mit ihnen gilt es, diese Ängste zu überwinden und klare Grenzen zu ziehen. Ängste sind das eine, aber sie in Gewalt umzusetzen, ist das andere. Letzteres muss energisch verhindert werden.
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.