domradio.de: Die Opposition in der Türkei beschwert sich über Nachteile und Manipulationen im Wahlkampf. Sind die Kandidaten nur schlechte Verlierer oder war die Wahl tatsächlich unfair?
Dr. Lale Akgün: Die Wahl war natürlich sehr unfair, weil Erdogan als Ministerpräsident des Landes auf alle Ressourcen zugreifen konnte, die ihm zur Verfügung standen. Das heißt, alle Medien haben ihm zugearbeitet, er konnte auf die Polizei zugreifen, er konnte Wahlspenden akquirieren. Die beiden anderen Kandidaten waren mehr oder weniger C-Kandidaten.
domradio.de: Erdogan hat jetzt doch deutlich mit über 50 Prozent gewonnen. Im Ausland, vor allem in Europa, gilt er als umstritten, warum haben ihn so viele Türken gewählt?
Akgün: Die 50 Prozent sind nicht unbedingt alle AKP (Red.: Adalet ve Kalkınma Partisi, zu deutsch: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Anhänger gewesen. Man muss neben den unfairen Voraussetzungen auch ganz klar sehen, dass Erdogan dafür gesorgt hat, dass diejenigen, die ihn wählen, auch wirtschaftlich gut dastehen. Es gab gute Wahlgeschenke.
Es ist ja auch bekannt, dass Leute ihre Stimmzettel fotografiert haben per Smartphone, um vorzulegen und zu beweisen, dass sie Erdogan gewählt haben. Es gab Versprechungen im Vorfeld, aber ich denke mal neben all diesen Dingen ist die Tatsache nicht zu verleugnen, dass Erdogan vor allem von den sozial Benachteiligten gewählt worden ist, die sich von ihm eine Stimme und eine Identität versprechen.
domradio.de: "Eine neue Ära bricht an", hat Erdogan gesagt. Wie sehr wird sich die Türkei jetzt ändern? Fällt irgendwann die strikte Trennung zwischen Staat und Religion?
Akgün: Ich glaube, dass diese Trennung sowieso immer weniger wird. Aber erstmal müssen wir gucken, was das politisch heißt. Die Türkei ist schon lange kein europäisches Land mehr, sondern ein Land des Nahen Ostens. Inzwischen wird dort auch so Politik gemacht. Alle Blicke richten sich jetzt auf die Parlamentswahlen, die eigentlich 2015 stattfinden sollten. Gestern Abend wurde schon gemunkelt, ob Erdogan nicht diesen Schwung mitnimmt und die Wahlen auf Ende dieses Jahres vorzieht. Man sollte nicht vergessen, dass Erdogan seine erste Rede als Staatspräsident vom Balkon des Parteihauses der AKP gehalten hat.
Wenn also Erdogan und die AKP die Parlamentswahlen gewinnen, heißt das für die Türkei, dass das letztendlich die letzten freien Wahlen waren. Dann werden die Regeln der Türkei nach den Regeln des Nahen Ostens geführt werden und nicht mehr nach den Vorstellungen eines säkularen Staates. Erdogan wird auf mindestens 10 Jahre, wenn nicht sogar auf Lebenszeit, Staatspräsident bleiben. Die AKP wird zur Staatspartei werden. Er hat mit den Worten "Der Mann des Volkes kommt" Wahlkampf gemacht. Erdogan wird sich immer die Bestätigung für seine Partei durch Wahlen holen, um zu zeigen: Wir sind gewählt, das Volk will uns. Erdogan hat eine Art, alle Zwischeninstanzen wie Justiz, Polizei und Parlament auszuschalten und sich hinzustellen, als hätte er einen direkten Draht zum Volk. Er und das Volk, wir sind eins. Alle anderen Institutionen stören. Es darf nichts daneben geben.
Das ist fast Nahost- Politik. So funktionieren eigentlich autoritäre Regime im Nahen Osten. Und zu diesen Ländern wird die Türkei endgültig gehören, wenn sich die nächsten Parlamentswahlen wieder im Sinne der AKP entscheiden. Und die Frage wäre auch, was es hier für uns in Deutschland bedeutet. Die Wahlergebnisse in Deutschland sind - meiner Meinung nach - sehr interessant gewesen. Die Wahlbeteiligung war in Deutschland sehr gering, keine sieben Prozent. Aber Erdogan hat 68% der Stimmen hier in Deutschland bekommen. Und das zeigt uns etwas über die Situation der Politisierung der Türken in Deutschland. Das heißt für mich in erster Linie, dass diejenigen, die hier leben, gar nicht mehr so sehr an der türkischen Politik interessiert sind. Aber diejenigen, die zur Wahl gehen, die sind organisiert durch die Vorfeldorganisation der AKP in Deutschland. Und die betreiben, um auf Ihre Ausgangsfrage zu kommen, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland eine "Schariarisierung" der Gesellschaft.
domradio.de: Denken Sie, dass durch dieses Wahlergebnis in Zukunft Integration zumindest von türkischstämmigen Menschen schwieriger wird?
Akgün: Ich denke, gerade diejenigen, die sich politisch für die Türkei engagieren, sind organisiert durch die Türkei. Wenn ich "Schariarisierung" sage, meint das vor allem, dass die religiöse Identität in den Mittelpunkt des Lebens und des Alltags gestellt wird. Gerade von diesen Leuten, die mit der AKP sympathisieren. Das heißt mehr religiöse Kleidung, mehr Beschneidung von Frauenrechten, mehr Moscheeprojekte usw. Das ist der Punkt, der die Integration, das Zusammenleben tangiert, weniger Kontakt zu Menschen, die eine andere Lebensauffassung oder eine andere Religion haben. Das denke ich, wird sich sehr viel schwieriger gestalten. Und an der Stelle halte ich eine "Appeasement Politik", also eine Politik, die immer beschwichtigt, und sagt, so schlimm ist das alles gar nicht, für falsch. Weil eine "Schariarisierung" der Türkei und der Türken in Deutschland zu Folge hätte, dass wir genau die Probleme des Nahen Osten vor unserer Haustür hätten.
domradio.de: Glauben Sie, dass die deutsche Politik eine entsprechende Antwort auf diese neue Entwicklung finden wird?
Akgün: Die deutsche Politik wird sich sehr schwer tun, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Zum einen, weil eben in der Türkei nicht nur Erdogan-Anhänger sind. Ich denke, dass gerade diejenigen, die nicht Erdogan gewählt haben, also vor allem Aleviten, Kurden, Intellektuelle und als ganz große Gruppe Frauen, dass sie die Unterstützung jetzt aus der EU und Deutschland brauchen. Zudem sind die wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zu Deutschland aus der Türkei und umgekehrt sehr eng. Aber auf der anderen Seite hat man vor allem auch in den letzten Jahren sich zu sehr an die AKP-Regierung angenähert. Man hat gedacht, das ist die Demokratie, die jetzt kommt. Es ist genau umgekehrt gekommen. Erdogan hat mal vor Jahren einen Spruch los gelassen. Er hat gesagt: "Demokratie ist ein Vehikel. Ein Bus. Man steigt ein, und wenn man an der richtigen Haltestelle angekommen ist, steigt man wieder aus". Ich fürchte, gestern war der Tag, an dem er aus diesem Bus der Demokratie ausgestiegen ist.
domradio.de: Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview hat Mathias Peter geführt.