Jahrzehntelang war der versiegelte Briefumschlag aus Portugal eines der am besten gehütetsten Geheimnisse des Vatikan: Seit 1957 lagerten die legendären Aufzeichnungen über das sogenannte dritte Geheimnis von Fatima im Geheimarchiv der heutigen Glaubenskongregation. Zu Papier gebracht hatte sie die Portugiesin Lucia dos Santos im Jahr 1944.
Die Ordensfrau berichtet darin auf vier DIN A5-Seiten, was ihr und zwei weiteren Hirtenkindern vor mehr als 100 Jahren, am 13. Juli 1917, die Gottesmutter Maria in Fatima anvertraut haben soll. Seit dem 13. Mai 1917 hatten Lucia und zwei weitere Kinder nach eigenen Angaben in der Nähe des Dorfes Marienerscheinungen erlebt.
Wilde Gerüchte und düstere Spekulationen rankten sich um diese Erscheinungen und das Geheimnis. Hielt der Vatikan hier bewusst Prophezeiungen über den Weltuntergang aus erster Hand zurück? Tatsache war: Die ersten beiden Geheimnisse von Fatima waren bereits 1941 veröffentlicht wurden, doch beim dritten zögerten die Päpste.
Mehrmaliges Zögern
Johannes XXIII. ließ sich den Briefumschlag, auf dem stand, dass er nicht vor 1960 geöffnet werden dürfe, 1959 bringen. Nach der Lektüre entschied er: "Lasst uns warten". Sechs Jahre später las sein Nachfolger Paul VI. die vier handschriftlichen DIN A-5-Seiten. Auch er befand, es sei besser, die Öffentlichkeit nicht über den Inhalt des Schreibens zu informieren.
Johannes Paul II. schließlich las das Geheimnis nach dem Attentat auf seine Person am 13. Mai 1981. Für den polnischen Papst war sofort klar, auf wen sich die Prophezeiung bezog: auf ihn selbst und die Schüsse auf dem Petersplatz. Johannes Paul II. war überzeugt davon, dass ihm die Madonna von Fatima das Leben gerettet hatte - exakt am Jahrestag der ersten Erscheinung. Doch auch er zögerte weiter. Erst 19 Jahre später lüftete er den Schleier: Im Jahr 2000 ließ der Papst das dritte Geheimnis von Fatima im Wortlaut veröffentlichen.
Brisante Botschaft
Was war so brisant an dieser Botschaft? Aus Sicht der Päpste war es wohl vor allem diese Passage: "Und wir sahen in einem ungeheuren Licht, das Gott ist: etwas, das aussieht wie Personen in einem Spiegel, wenn sie davor vorübergehen, einen in Weiß gekleideten Bischof; wir hatten die Ahnung, dass es der Heilige Vater war", heißt es in dem Text. Der Bischof in weiß, sei "halb zitternd und mit wankendem Schritt" durch eine halb zerstörte Stadt gegangen, schreibt Schwester Lucia. Als er vor einem großen Kreuze niedergekniet sei, habe ihn eine Gruppe von Soldaten mit Feuerwaffen und Pfeilen getötet. Hier wurde offensichtlich die Ermordung eines Papstes oder zumindest eines Bischofs geschildert.
Doch ganz ohne Verständnishilfe wollte Johannes Paul II. das dritte Geheimnis den Gläubigen nicht zumuten. Daher beauftragte er seinen Cheftheologen, Kardinal Joseph Ratzinger, die Prophezeiung mit einem gelehrten Kommentar zu versehen.
Erklärungen zur Bedeutung
"Was hat das Geheimnis von Fatima zu bedeuten? Was sagt es uns?" fragte Ratzinger in seinem Kommentar. Seine Antwort: "Wer auf aufregende apokalyptische Enthüllungen über das Weltende oder den weiteren Verlauf der Geschichte gewartet hatte, muss enttäuscht werden". Die Geschehnisse, auf die sich der dritte Teil des Geheimnisses beziehe, gehörten mittlerweile der Vergangenheit an, so der deutsche Kurienkardinal. Damit machte er sich unausgesprochen die Deutung Johannes Pauls II. zu eigen.
Was von Fatima für Gegenwart und Zukunft bleibe, seien "die Führung zum Gebet als Weg zur Rettung der Seelen", so das Resümee Ratzingers. Das war für fromme Marienverehrer beruhigend und ermutigend, für eingefleischte Weltuntergangspropheten hingegen ernüchternd. Sollte das wirklich alles gewesen sein? Das dritte Geheimnis von Fatima nichts weiter als eine Anleitung zum Gebet? Verschwörungstheoretiker mit apokalyptischen Neigungen hegten schon bald einen bösen Verdacht: Hatte der Vatikan das dritte Geheimnis möglicherweise nur unvollständig und in einer zensierten Fassung publiziert?
Das Gerücht hielt sich über Jahre so hartnäckig, dass das vatikanische Presseamt sich noch im vergangenen Jahr zu einer Klarstellung genötigt sah. Anlass waren Medienberichte, der damalige Kardinal Ratzinger habe einem Weggefährten anvertraut, das dritte Geheimnis sei unvollständig veröffentlicht worden. Dem widersprach der emeritierte Papst Benedikt XVI. höchstpersönlich. Die Mitteilung des Presseamtes zitierte ihn mit den Worten "die Veröffentlichung des Dritten Geheimnisses von Fatima ist komplett".