Staatskirchenrechtler Rüfner zum Straßburger Kruzifix-Urteil

"Eine Sache der Auslegung"

Wie viel Religion darf sich das säkulare Europa im öffentlichen Raum erlauben? Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Italien hat diese Frage in dieser Woche erneut aufgeworfen. Wolfgang Rüfner, Direktor des Instituts für Staatskirchenrecht der Diözesen Deutschlands, über die Bedeutung des Urteils für die Zukunft.

 (DR)

KNA: Herr Professor Rüfner, wie bewerten Sie das Straßburger Urteil?
Rüfner: Ich finde es bedauerlich, dass wieder ein Stück aus der christlichen Tradition Europas herausgeschnitten werden soll. Andererseits hatte ich auch nichts anderes erwartet. Denn unter den Richtern in Straßburg ist das konfessionell-christliche Element nicht mehr so stark wie es einmal war.

KNA: Aber die Richter haben doch klare Vorgaben, nach denen sie urteilen müssen, in diesem Fall die Europäische Menschenrechtskonvention.
Rüfner: Die Entscheidung hätte auf dieser Grundlage auch ganz anders ausfallen können. Juristische Studien zeigen, dass die Europäische Menschenrechtskonvention durchaus Raum lässt für christliche Werte.
Die Entscheidung hängt davon ab, ob der interpretierende Richter religiöse Werte als unverzichtbare Wurzel unserer Kultur für wichtig hält oder nicht. Hier haben sich die Gewichte in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr zugunsten eines strikten Säkularismus verschoben.

KNA: Gab es diesen Spielraum auch beim Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das 1995 die bayerische Vorschrift, Kreuze in staatlichen Schulen anzubringen, für verfassungswidrig erklärte?
Rüfner: Die Karlsruher Richter, die damals gegen dieses Urteil stimmten, haben in ihren Stellungnahmen deutlich gemacht, dass aus ihrer Sicht auch das Grundgesetz kein Verbot von Schulkreuzen rechtfertigt. Unsere Verfassung gründet ja eindeutig auf dem christlichen Menschenbild, das auch in den Schulordnungen anderer Bundesländer als Erziehungsziel genannt wird. So gesehen ist das Kreuz nicht nur das Zeichen einer Religion, sondern es steht für Verfassungswerte wie Frieden, Humanität und Menschenrechte. Werte, die für die säkulare Demokratie unverzichtbar sind - sie hat nur kein eigenes Symbol dafür entwickelt.

KNA: Ein solcher Wert war für die Richter in Karlsruhe und Straßburg aber auch die religiöse Neutralitätspflicht des Staates...
Rüfner: ...die ich auch gar nicht infrage stellen will. Die Frage ist nur, ob der Staat dieses Toleranzgebot schon verletzt, nur weil er sich zu den Werten einer friedliebenden Religion bekennt und dies auch zeigt - ohne diese Religion anderen aufzuzwingen. Ich halte es für zumutbar, dass Schüler aus nichtchristlichen Familien ein Kreuz an der Wand sehen, wenn sie ansonsten mit den Inhalten des Christentums in Ruhe gelassen werden. In diesen Fällen ist das Kreuz für sie ja nicht viel mehr als ein stummer Gegenstand.

KNA: Das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichts gilt nur für Italien. Wie groß ist seine Bedeutung für die Zukunft des Kontinents?
Rüfner: Ich glaube, ganz erheblich. Wir werden in den kommenden Jahren immer öfter erleben, dass Kläger gegen öffentliche Kreuze bis nach Straßburg gehen, wenn sie zuvor in den nationalen Instanzen gescheitert sind. Das ist ein Dominoeffekt. In den europäischen Gesellschaften schreitet die Entchristlichung weiter voran, auf der politischen Ebene wird der Säkularismus gegenüber den Kirchen kompromissloser ausgelegt. Zugleich sehen wir eine große Zunahme der religiösen Vielfalt, vor allem mit Blick auf den Islam. Diese Entwicklung braucht man nicht als "Untergang des christlichen Abendlandes" zu dramatisieren. Aber sie wird Europa sehr stark verändern.

Das Interview führte Christoph Schmidt.