Steht das Kirchenasyl vor dem Aus?

Nächstenliebe unter Druck

Eine russische Familie, die nicht in der Ukraine kämpfen wollte, wurde am Sonntag von der Polizei aus dem Asyl einer evangelischen Gemeinde abgeführt. Seit Jahren steht das Kirchenasyl unter Beschuss. Ist die Praxis in Gefahr?

Autor/in:
Renardo Schlegelmilch
Junger Mann mit einem T-Shirt mit der Aufschrift "Kirchenasyl". / © Harald Oppitz (KNA)
Junger Mann mit einem T-Shirt mit der Aufschrift "Kirchenasyl". / © Harald Oppitz ( KNA )

"Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen" (Mt 25,35). Knapp 2.000 Jahre sind diese Worte aus dem Matthäusevangelium schon alt. Trotzdem sorgen sie aktuell und ganz konkret für politischen Sprengstoff. Auf dieses Bibelzitat beziehen sich engagierte Christinnen und Christen, wenn sie Flüchtlingen und Migranten eine temporäre Unterkunft gewähren.

Die Tradition des Kirchenasyls geht bis auf vorchristliche Zeiten zurück. In Deutschland öffnen in modernen Tagen Kirchengemeinden ihre Türen für Menschen, die andernfalls von Abschiebung bedroht wären. Einen Rechtsanspruch auf Kirchenasyl gibt es nicht, seit Jahren ist es aber ein Einvernehmen zwischen Kirche und Politik, diese Praxis zu tolerieren. Trotzdem gerät das Kirchenasyl immer mehr in Bedrängnis.

Polizei holt russische Familie ab

Symbolbild Kirchenasyl / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Kirchenasyl / © Harald Oppitz ( KNA )

Am vergangenen Sonntag wurde eine russische Familie von der Polizei aus einer evangelischen Gemeinde im niedersächsischen Uelzen abgeholt und zum Flughafen Köln-Bonn gebracht, wo ein Flieger nach Spanien auf die vierköpfige Familie wartete. Sie befanden sich mit einem spanischen Visum in der EU und wurden deshalb in dieses Land zurückgeführt.

Der Vater und der erwachsene Sohn der Familie sollten eigentlich zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eingezogen werden und versuchten, sich davor zu bewahren. Der Eingriff der Polizei ist ein Tabubruch, da sich Kirche und Staat eigentlich einig sind, die Institution des Kirchenasyls zu respektieren.

Nicht der erste Fall

Die "Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche" sprach erst am Montag von sechs weiteren "angedrohten, versuchten oder vollzogenen" Fällen seit Juli 2023, in denen sich von staatlicher Seite nicht an die Vereinbarungen zum Kirchenasyl gehalten wurde.

Dies bestätigt einen Trend, den der bayerische Kirchenasylverein "Matteo e.V." bereits 2021 gegenüber DOMRADIO.DE kommentiert hat, als es zu mehreren Klagen gegen Gemeinden und Ordensleute gekommen ist, die Kirchenasyl gewährt haben. "Man versucht so Druck aufzubauen." Laut Stephan Theo Reichel, dem ersten Vorsitzenden von Matteo e.V., verberge sich dahinter eine politische Strategie, die Kirchen mürbe zu machen, die nach Auffassung einiger mit der Praxis des Kirchenasyls geltendes Recht umgehen. So habe man in den letzten Jahren mehrere Eskalationsstufen erlebt, von Anzeigen über Klagen bis hin zu Prozessen, die am Ende aber in der Regel mit Freisprüchen oder Verfahrenseinstellungen endeten.

Mutter Mechthild macht Schlagzeilen

Mutter Mechthild mit ihrem Verteidiger beim Prozess im Sitzungssaal des Amtsgerichts Bamberg. / © Daniel Vogl (dpa)
Mutter Mechthild mit ihrem Verteidiger beim Prozess im Sitzungssaal des Amtsgerichts Bamberg. / © Daniel Vogl ( dpa )

Der bekannteste Fall betrifft die bayerische Benediktineräbtissin Mechthild Thürmer. Seit 2014 hatte sie Flüchtlingen aus dem Irak oder Afghanistan, die von der Abschiebung bedroht waren, Obdach gewährt. 2020 wurde ihr erstmals ein Prozess wegen "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" angedroht, der dann 2023 vor Gericht mit einer Einstellung des Verfahrens endete. "Ich kann mir das nur so vorstellen, dass es uns, die da helfen wollen, mürbe machen oder ängstigen soll. Aber uns geht es zutiefst um diese Menschen, um die Menschlichkeit", so Mutter Mechthild im Interview.

Kirchenasyl wird seit Jahrzehnten toleriert

Aber sehen sich die Kirchen mit dem Kirchenasyl wirklich über dem geltenden deutschen Recht? Keineswegs. Im Jahr 2015, als über eine Million Flüchtlinge wegen des syrischen Bürgerkrieges nach Deutschland kamen, wurde eine offizielle Vereinbarung zwischen den Kirchen und den Bundesministerien getroffen, wie mit Kirchenasylfällen umzugehen ist.

Von evangelischer Seite beteiligt an diesen Gesprächen war Prälat Martin Dutzmann, der damalige EKD-Bevollmächtigte bei der Bundesregierung. Er betonte 2019 im Interview, dass die Kirchen keinen Anspruch erhöben, über dem Recht zu stehen, dass es aber Notlagen gäbe, in denen nicht nur der Text des Gesetzes gelten dürfe: "Wir haben abgesprochen, dass wir die Erlaubnis bekommen, dem Staat diese Notlagen noch einmal vorzutragen, damit er möglicherweise seine Entscheidung korrigiert. Insofern ist das Kirchenasyl nicht etwas, was sich über den Rechtsstaat erhebt, sondern es ist eine einvernehmliche Vereinbarung und Absprache zwischen Kirche und Staat."

Diese Vereinbarung führte dazu, dass Staat und Kirchen offen und gemeinsam das Kirchenasyl verwalten. Bei den konkreten Fällen stünde man im ständigen Austausch, so Marianne Arndt, Kölner Gemeindereferentin und Mitglied im Netzwerk "Asyl in der Kirche": "Es wird über jede Familie oder Person, die im Kirchenasyl ist, ein Dossier erstellt. Das wird über das Katholische Büro des jeweiligen Landes an die Landesinnenminister übergeben. Somit sind die Menschen nicht untergetaucht."

Ist das Kirchenasyl in Gefahr?

Landesbischof Christian Stäblein / © Frank Senftleben (epd)
Landesbischof Christian Stäblein / © Frank Senftleben ( epd )

Besteht die Gefahr, dass die Institution des Kirchenasyls komplett fallen könnte? Der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Christian Stäblein, ist zumindest alarmiert. Er sieht dringenden Gesprächsbedarf zwischen Kirchen und Politik, gerade nach dem aktuellen Fall der russischen Familie in Uelzen. "Das wirft deutliche Fragen an den behördlichen Umgang mit dem Kirchenasyl auf", so Stäblein gegenüber dem Evangelischen Pressedienst am Donnerstag. Ein Gespräch mit den Behörden sei "dringlich" nötig, damit man zu einem gemeinsamen humanitären Umgang mit Menschen in akuten Notsituationen gelange.

Kirchenasyl

Beim sogenannten Kirchenasyl nehmen Gemeinden oder Ordensgemeinschaften vorübergehend Asylbewerber auf, um eine Abschiebung abzuwenden, weil diese für den Flüchtling eine Bedrohung an Leib und Leben darstellt. Schon aus dem vierten Jahrhundert ist bekannt, dass Flüchtlinge in Kirchen Schutz suchten.

Ein Schlafsack und ein Rucksack liegen auf einer Kirchenbank. Im Hintergrund steht ein Zelt. / © Harald Oppitz (KNA)
Ein Schlafsack und ein Rucksack liegen auf einer Kirchenbank. Im Hintergrund steht ein Zelt. / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
DR