DOMRADIO.DE: Der vergangene 7. Oktober hat alleine für uns in Deutschland das Leben, den Alltag verändert. Wie war das bei Ihnen in Ostjerusalem?
Msgr. Stephan Wahl (Priester und Autor aus dem Bistum Trier mit Lebensmittelpunkt in Ostjerusalem): Der 7. Oktober fing an wie jeder normale Tag im wunderschönen Sonnenschein. Aber sehr früh ging meine Warn-App an. Wir haben alle eine Warn-App, die sich meldet, sobald Raketen aus Gaza geschickt werden und dann von der israelischen Abwehr abgefangen werden. Ich weiß noch genau, dass ich gedacht habe, oh Gott, jetzt geht das schon wieder los, weil das öfter passiert, allerdings mit weniger Raketen und nach ein, zwei Tagen ist dann gut. Zumindest ist es dann kein andauernder Konflikt. Aber an diesem 7. Oktober war es eben so, dass die Raketen nicht aufhörten und dass es immer und immer weiter ging, auch in meiner Nachbarschaft. Ich wohne in Ostjerusalem, bin da aber im palästinensischen Teil relativ sicher. Aber als in der Siedlung gegenüber auf einmal Alarm war und ich am Himmel die abgeschossenen Raketen und die Detonationen sah, die auch bei uns zu spüren waren, war das eine ganz andere Dimension.
Im Laufe des Tages sickerten dann immer mehr Nachrichten durch. Dann war bald klar, als die entsetzlichen Nachrichten über das Massaker kamen, die die Raketenüberfälle aufs Grässlichste sekundierten, dass das jetzt hier was ganz anderes ist. Wir waren mitten im Krieg.
DOMRADIO.DE: Sie sind durch spirituelle Texte bekannt. Der Ahr-Psalm sagt vielen etwas, den Sie rund um die Flutkatastrophe im Artikel geschrieben haben. Auch an diesem 7. Oktober haben Sie direkt einen Text geschrieben. Was ging Ihnen da durch den Kopf?
Wahl: Es war vergleichbar vielleicht mit dem Ahr-Psalm. Immer wenn ich in so eine Situation komme, wo sich bei mir die Verzweiflung, die Wut, die Hilflosigkeit steigern, brauche ich ein Ventil, um das irgendwie rauszulassen. So gerieten an dem Samstagabend mehr und mehr die Opfer in meinen Blick, in der Nähe von Gaza, in den Kibbuzim, aber genauso auch die Opfer in Gaza, als das Bombardement anfing. Denn die Kriegsopfer zahlen immer den Preis für alles, was vorher verursacht worden ist, egal auf welcher Seite. Die hatte ich im Blick und habe darüber dann diesen Psalm geschrieben.
DOMRADIO.DE: Anders als andere Ausländer in Israel haben Sie das Land nicht verlassen. Hat man nicht auch so ein bisschen Angst um seine eigene Haut?
Wahl: Nein, ich habe mir die Frage überhaupt nicht gestellt. Es gab zwar in der ersten Woche auch Angebote der Botschaft. Das Auswärtige Amt hat Lufthansa-Maschinen geschickt, um uns auszufliegen.
Ich habe mir das keine Sekunde überlegt. Ich kann mich doch nicht in mein sicheres Deutschland zurückziehen, wenn es mal schwierig in dem Land wird, in dem ich lebe. Die anderen, die mit mir leben, Israelis wie Palästinenser, können das nicht. Also ich gehöre dahin. Meine Heimat ist zwar Deutschland, ja, aber zu Hause bin ich in Jerusalem.
DOMRADIO.DE: Hat sich denn die Stimmung seitdem in Ostjerusalem geändert? Es gibt ja kaum einen Ort im Land, wo Israelis und Palästinenser so direkt aufeinandertreffen.
Wahl: Man kann am deutlichsten in der Straßenbahn sehen, dass sich die Situation verändert hat. Die Straßenbahn war für mich immer ein Beweis dafür, dass es eigentlich geht, unproblematisch miteinander zu leben. Die war immer gefüllt mit Palästinensern, mit Israelis. Die Straßenbahn war wichtig, nicht die Fahrgäste.
Manche fragen sich, warum es noch nie einen Anschlag auf die Straßenbahn gab. Weil die Nutzer bunt gemischt waren und da würde nichts passieren. Die wird jetzt fast nur von Israelis benutzt. Die Palästinenser fahren kaum noch mit der Straßenbahn, weil sie Angst vor Übergriffen haben, weil auch viele der Israelis sich mittlerweile bewaffnet haben.
Meine Vermieterin zum Beispiel, Palästinenserin, hat ihren Kindern verboten, mit der Straßenbahn zu fahren. Da sieht man es sehr deutlich.
Ich bin früher sehr unbedarft durch die Stadt gegangen, wenn ich meine Wege gemacht habe. Ich habe oft Kopfhörer aufgehabt, habe ein Hörbuch gehört oder gute Musik. Das mache ich jetzt nicht, weil ich hellwach bleiben will. Wenn ich im arabischen Teil bin, habe ich jetzt meistens ein arabisches T-Shirt an oder zeige meinen Priesterkragen, um deutlich zu signalisieren, dass ich kein Israeli bin. Und wenn ich dann im jüdischen Supermarkt bin, ziehe ich ein anderes T-Shirt über das arabische T-Shirt.
DOMRADIO.DE: Haben Sie Angst, zwischen die Fronten zu geraten?
Wahl: Die Möglichkeit besteht natürlich. Es ist erschreckend, dass man selber so was denken muss. Es war mir sehr, sehr deutlich am zweiten Tag. Am zweiten Tag bin ich in die Neustadt gefahren und habe mich in die Schlange der Israelis gestellt und drei Stunden lang in der Sonne gestanden, um Blut zu spenden, was ich noch nie gemacht habe. Aber ich hatte den Eindruck, du musst irgendwas tun. Ich bin danach mit der Straßenbahn zurück in mein arabisches Viertel gefahren, war kaputt vom Stehen, vom Blutabnehmen, von der Nacht vorher. Und dann habe ich gesagt: So, jetzt geht es in die Metzgerei und kaufst dir ein dickes, ordentliches Steak, das brätst du dir und dann kommst du wieder zu Kräften.
Dann stand ich vor der Metzgerei und habe gesagt: Halt, du kannst nicht reingehen. Ich hatte den Arm ja noch von der Blutabnahme verbunden. Ich dachte, wenn du da reingehst und da ist ein Hamas-Sympathisant und der sieht, dass du Blut für Israelis gespendet hast, hält mich möglicherweise für einen israelischen Soldaten ... dann wird es nicht gemütlich.
Ich habe also die Bandage abgewickelt und bin ohne Verband reingegangen. Es war wahrscheinlich völlig überdreht und völlig unsinnig. Aber auf solche Gedanken, die man zwei Tage vorher nie gehabt hätte, kommt man auf einmal.
DOMRADIO.DE: Nun ist Advent, fast Weihnachten. Herrscht da in Jerusalem aktuell eine andere Stimmung als sonst in der Adventszeit?
Wahl: Ja, auf jeden Fall. Man sieht ja sehr deutlich in Jerusalem, dass die Pilger fehlen. Es fehlen die Touristen, die meistens auch vor Weihnachten da sind. Die Westbank ist abgeschottet, man kommt im Moment gar nicht nach Bethlehem rein, zumindest kaum. Advent heißt ja Ankunft. Und wenn wir in dem Land auf eine Ankunft warten, dann auf Salam, Schalom, Frieden. Den wollen wir haben.
DOMRADIO.DE: Bis Ende Januar wird Ihre Lesereise durch Deutschland gehen, auf der Sie die Psalmen vorstellen, die Sie in diesem Kriegskontext geschrieben haben. Einer Ihrer Psalmen befasst sich auch mit dem Thema der unterschiedlichen Wahrheiten, also welchen Nachrichten man aktuell vertrauen kenn, wann es um Nahost-Berichterstattung geht.
Wahl: Ich habe schon vor dem Krieg gesagt und sage es jetzt erst recht: Ich gehöre auf keine Seite, weder auf die eine noch auf die andere. Und wenn, dann auf beide. Ich bin da sehr zerrissen. Ich war am letzten Tag des Waffenstillstands in Tel Aviv und war auf dem Platz, der an die Geiseln und Vermissten erinnert. Es ging mir wahnsinnig nahe, was ich da gesehen habe: der leere Shabbat-Tisch, für jede Geisel ein leerer Platz oder gefesselte Puppen, die an die Kinder erinnern. Und dann bin ich von dort aus wieder zurück in mein arabisches Viertel Shuafat in Jerusalem, wo die Menschen um ihre Verwandten und Freunde von Gaza zittern. Das ist eine Situation, die wirklich schwer auszuhalten ist. Aber ich muss sie auszuhalten, denn ich kann mich nicht auf eine der beiden Seiten schlagen.
Manchmal ärgert es mich oder macht mich nachdenklich, wenn ich mitbekomme, wie sehr auch in Deutschland in Schablonen oder Schubladen gedacht wird. Wenn ich zum Beispiel irgendwo lese, "die Palästinenser", kann ich nur den Kopf schütteln. Es gibt nicht "die Palästinenser", es gibt Leute, die für die Hamas sind, es gibt Leute, die für die Fatah sind und es gibt Leute, die sich ganz zurückhalten. Gut, sagen dann manche, wo sind denn die kritischen Palästinenser, die den Mund gegen die Hamas aufmachen? Die haben Angst, etwas zu sagen, denn wenn sie etwas sagen würden, dann könnten sie ihre Familie einpacken und wissen gar nicht, ob sie den Tag überleben.
Auf der anderen Seite ist es ganz wichtig in Deutschland, den Anfängen von Antisemitismus entgegenzuwirken und da deutlich Position zu beziehen. Aber da auch nicht wieder alles in einen Topf zu werfen. Wenn ich die meiner Meinung nach verheerend wirkende Regierung in Israel unter Netanjahu, unter zwei faschistoiden Ministern, kritisiere, dann beleidige ich doch nicht die Jüdin von New York oder von München. Da muss man doch unterscheiden. Vor dem Krieg hat halb Israel gegen die Regierung wegen der Justizreform protestiert. Das geht ja auch. Kritik an der Regierung heißt nicht automatisch Antisemitismus.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.