Man sieht sie an Landstraßen oder an Kreuzungen mitten in der Stadt: Gedenkorte für Menschen, die hier vor wenigen Wochen oder schon vor Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind.
Angehörige und Freundes des Opfers würden damit "das Unfassbare fassbar" machen wollen, erklärte Matthias Rausch, Beauftragter für Notfallseelsorge bei der Evangelischen Kirche von Westfalen, bei einem digitalen Salongespräch des Vereins Kuratorium Immaterielles Erbe Friedhofskultur. Die Straßenkreuze lösen bei Menschen jedoch unterschiedliche Gefühle aus.
Trauer in der Öffentlichkeit zeigen
So spricht der Psychiater Michael Hase von "gemischten Gefühlen" und "Irritation" beim Anblick solcher Orte. Zwar sei er sehr dafür, dass Trauer verstärkt in der Öffentlichkeit gezeigt werde, jedoch käme er selbst nie auf die Idee, an einem Unfallort ein Kreuz aufzustellen.
Auch Pfarrer Rausch sieht bei diesen Gedenkorten die Gefahr, dass der verstorbene Mensch allein auf seine Todesart reduziert werde.
Allerdings erlebe er als Überbringer von Todesnachrichten auch häufig das Bedürfnis der Hinterbliebenen, den Ort des Sterbens aufzusuchen.
So erinnert er sich an einen Fall, bei dem die Eltern "sehr schnell ein drängendes Interesse" hatten, den nur wenige hundert Meter entfernten Ort zu sehen, an dem ihr Sohn verunglückte. "Noch heute liegen dort Blumen und Kerzen", berichtet Rausch. Nach Angaben des Kulturwissenschaftlers Norbert Fischer von der Universität Hamburg gehen wir immer an Orte zurück, an denen etwas für uns Einschneidendes stattgefunden hat - "um uns dessen zu versichern".
An Straßenkreuzen und somit "jenseits von Friedhöfen" zeigten besonders junge Menschen, die Freunde des Opfers, ihre Trauer.
Fischer zufolge bleiben die meisten Unfallgedenkorte auch nur wenige Wochen stehen. "Sie sind zeitlich begrenzt, nur wenige bleiben Jahre stehen." Sie würden zudem freier und individueller gestaltet als Gräber. "Sie sind wie ein Altar für jemanden, der uns sehr nah war", erklärt der Forscher. Oft würden persönliche Gegenstände auch noch aus den Kindheits- oder Jugendtagen zur Erinnerung dort hingelegt.
Ein "wichtiger Verbindungsort" zur gestorbenen Person
Eine Mutter, deren Tochter vor 13 Jahren im Alter von 16 bei einem Verkehrsunfall verstarb, berichtet, dass das Straßenkreuz ein "wichtiger Verbindungsort" zur Tochter sei. Die jüngere Schwester habe anfangs nicht zum Friedhof "gekonnt und gewollt", stattdessen aber am Straßenkreuz mit der Schwester Zwiesprache gehalten.
Für sie als Mutter sei inzwischen der Friedhof als Gedenkort wichtiger - das sei ein Prozess, der individuell verlaufe. "Wenn ein Straßenkreuz irgendwann nicht mehr gepflegt wird, ist es auch nicht unbedingt ein Zeichen der Vernachlässigung, sondern ein Zeichen dafür, dass es gehen darf," sagt sie.
Wenn diese Gedenkorte Irritationen hervorrufen oder gar als übergriffig empfunden werden, hat das vielleicht auch damit zu tun, "dass ich mich an meinen eignen Täteranteil erinnere", sagt Psychiater Hase. Denn jeder übersehe mal Verkehrszeichen oder fahre zu schnell. Dem Kulturwissenschaftler Fischer zufolge steht es jedem frei, das Kreuz zu ignorieren.
Für den Unfallverursacher sieht das allerdings anders aus: So könnten Straßenkreuze tatsächlich wie eine lebenslang inszenierte Schuld wirken, sagt Seelsorger Rausch. Der Uni-Professor Fischer berichtet von einem Konflikt, bei dem die Familie eines Unfallopfers einen Gedenkort immer wieder neu schmückt - und die Familie des Unfallverursachers diesen immer wieder leer räumt. Beide Familien wohnten im gleichen Ort. Hier würde am Gedenkort ein Konflikt ausgetragen, der besser in einer Aussprache münden sollte.
Pfarrer Rausch berichtet zudem, dass manche Menschen große Umwege in Kauf nehmen würden, um nicht an einem bestimmten Ort vorbeifahren zu müssen. "Dafür braucht es noch nicht mal ein Symbol, aber es befeuert es natürlich."