Studie zu Kinderkrebs - in der Nähe von AKWs doppeltes Risiko

Atomkraft - nein Danke?

Eine neue Studie zeigt, dass Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken gefährlich leben. Ihre Gefahr an Krebs zu erkranken sei deutlich erhöht, so das Fazit. Damit ist die Debatte über Atomkraft neu entbrannt, denn zu den Ursachen macht die Studie keine Aussagen. Der Grünen-Energieexperte Hans-Josef Fell fordert im domradio-Interview, Atomreaktoren schneller abzuschalten. Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) will die Untersuchung zunächst überprüfen, denn das Ergebnis ist auch für Wissenschaftler irritierend.

 (DR)

Die Untersuchung des Deutschen Kinderkrebsregisters in Mainz hat zum Ergebnis, dass das Risiko für Kinder, an Leukämie zu erkranken, mit zunehmender Nähe zu einem Atomkraftwerk zunimmt. Das Bundesamt für Strahlenschutz, das die Studie in Auftrag gegeben hat, weist darauf hin, dass "nachweislich das Risiko für Kinder an Leukämie zu erkranken umso größer ist, je näher sie am Reaktor wohnen".

Nicht überraschend
Die Erkenntnisse sind nicht wirklich neu. Seit  Jahren wird von Ärzten und Wissenschaftlern darauf verwiesen, dass in der direkten Umgebung von Atomkraftwerken vor allem Kleinkinder häufiger an Krebs und Missbildungen erkranken. Die WAZ verweist in ihrem Kommentar vom Montag auf eine Studie des Physikers Alfred Körblein, der bereits 1998 zu entsprechenden Ergebnissen kam. 2001 legte er eine weitere Studie vor, wonach die Kinderkrebsrate am Standort Gundremmingen am höchsten sei.

Auch das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) ist über das Ergebnis nicht überrascht. Es passt nach Auffassung der Behörde zu ähnlichen Untersuchungen, die weltweit durchgeführt werden. In einer sog. Metastudie der USA, in der bisherige ökologische Studien zum Auftreten von Krebs im Kindesalter in der Umgebung von Europäischen Kernkraftwerken zusammengefasst und ausgewertet wurden, war in diesem Jahr ebenfalls ein solcher Zusammenhang festgestellt worden. Überraschend sei jedoch, dass nachweislich, das Risiko für Kinder an Leukämie zu erkranken umso größer ist, je näher sie am Reaktor wohnen, so das BfS.

Die Frage nach der Ursache bleibt offen
Die neue Studie wurde vom Bundesamt für Strahlenschutz betreut. Zusammen mit dem Deutschen Kinderkrebsregister wurde in einer epidemiologischen Untersuchung festgestellt, dass die untersuchten Kinder an den 16 deutschen AKW Standorten ein höheres Risiko haben, an Krebs zu erkranken. Untersucht wurden Kinder unter fünf Jahren.

In vorangegangenen Studien kamen die Forscher zu widersprüchlichen Erkenntnissen und Interpretationen. Zudem gab es Kritik an der Methodik. Daher hatte das Bundesamt für Strahlenschutz Kritiker wie Befürworter der Kernkraft früh in die Planung der neuen Studie miteinbezogen.

Von 1980 bis 2003 wurde im Umkreis von 5 Kilometern um die Reaktoren ermittelt, dass 77 Kinder an Krebs, davon 37 Kinder an Leukämie, erkrankt sind. Im statistischen Durchschnitt wären 48 Krebs- bzw. 17 Leukämiefälle zu erwarten gewesen. Zu den Ursachen machte die Studie keine Aussagen. Dafür sind die Statistischen Ergebnisse wirklich belastbar. Die Strahlenbelastung sei aus medizinischer Sicht eigentlich zu gering für die starke Häufung der Krebsfälle. "Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand" sei das Ergebnis "nicht strahlenbiologisch erklärbar", heißt es in der Studie.

Die Wissenschaftler können nicht erklären, warum eine Strahlendosis, die weit unter der Belastung von Flugreisen, Röntgenuntersuchungen oder der natürlichen Strahlung der Erde liegt, zu bösartigen Tumoren führen soll. Das Ergebnis der Studie ist für die Forscher irritierend, lässt sich aber nicht wegdiskutieren.

"Ich habe in meinem Physikstudium sehr wohl gelernt, dass es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen natürlicher Radioaktivität und den radioaktiven Spaltprodukten", sagt dagegen  Hans-Josef Fell im domradio. Letztere würden viel leichter über Nahrungsmittel und Atemwege aufgenommen. Die Spaltprodukte kämen über den Kamin eines Atomkraftwerkes in die Umgebung.

Gabriel will Studie untersuchen lassen
Gabriel verwies darauf, dass der beobachtete Anstieg der Erkrankungen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht durch die Strahlenbelastung aus einem Atomkraftwerk erklärt werden könne. Die Strahlenbelastung der Bevölkerung müsste durch den Betrieb der Atomkraftwerke in Deutschland um mindestens das Tausendfache höher sein, um den beobachteten Anstieg des Krebsrisikos erklären zu können. Er habe daher die Strahlenschutzkommission (SSK) mit einer umfassenden Bewertung der Ergebnisse beauftragt. Sobald die Ergebnisse vorlägen, werde über das weitere Vorgehen entschieden.

Der Vorsitzende der SSK, Wolfgang-Ulrich Müller, hält einen Zusammenhang zwischen dem Betrieb von Atomkraftwerken und dem Auftreten von Leukämie für kaum belegbar. "Es wäre weltweit das erste Mal, dass Krebsfolgen in einem solch extremen Niedrigdosis-Bereich nachgewiesen würden", sagte der Strahlenbiologe der "Frankfurter Rundschau".

Müller verwies auf gut untersuchte Gebiete mit erhöhter natürlicher Strahlenbelastung. Dort träten nicht mehr Krebsfälle als anderswo auf, obwohl dort die Strahlendosis für die Bewohner deutlich höher sei als in der Umgebung von Atomkraftwerken.

Der SSK-Chef wies ferner darauf hin, dass in der aktuellen Studie nur die Nähe zum Kraftwerk berücksichtigt worden sei, nicht aber die jeweilige Strahlendosis. Daher könne man eine direkte Kausalität nicht herstellen. "Die Strahlung ist ja nicht automatisch in der direkten Umgebung der Anlage am höchsten - sie hängt etwa von Wetter, Vegetation und davon ab, ob es dort flach oder hügelig ist", sagte Müller. Dies zu erheben, wäre ein enormer Aufwand und könnte sicher nicht von heute auf morgen geschehen.

Entwaffnende Qualität
Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW kritisierte, offensichtlich seien die deutschen Strahlenschutzgrenzwerte zu hoch angesetzt. Es sei "zu kurz gegriffen", wenn Gabriel diese Grenzwerte als Grundlage für die Aussage nehme, dass ein Zusammenhang zwischen den Atomkraftwerken und den Krebserkrankungen zweifelhaft sei. Nicht die aktuellen Studienergebnisse müssten überprüft werden, sondern die derzeit gültigen Strahlenschutzgrenzwerte.

Grünen-Chef Reinhard Bütikofer forderte die "beschleunigte Abschaltung gerade der ältesten Atomkraftwerke". Wer angesichts der Ergebnisse der Studie für einen längeren Betrieb von Atommeilern eintrete, handele verantwortungslos.

Der SPD-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, Wolfgang Jüttner, sagte, die Studie sei von einer "entwaffnenden neuen Qualität". Je näher ein Kind an einem Kernkraftwerk wohne, umso größer sei die Gefahr, Leukämie zu bekommen. Man dürfe aber nicht zulassen, "dass überhaupt ein Kind gefährdet wird", fügte der SPD-Spitzenkandidat bei der niedersächsischen Landtagswahl hinzu.

Reiche sagte, in der Unions-Fraktion werde man sich die Studie genau ansehen müssen. Sie sei jedoch verwundert über die Botschaft der Untersuchung. So solle die Erkrankungsrate in der Nähe der Atomkraftwerke hoch sein, doch werde darauf hingewiesen, dass dies nicht auf Strahlungswirkungen zurückzuführen sei. "So sehr ich mir Aufklärung über diese Zusammenhänge von der Wissenschaft erhoffe, so sehr kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass die Studie die Antipathien gegen die Kernkraft schüren soll", sagte Reiche.