Studie zur Radikalisierung muslimischer Jugendlicher

Islam nach Baukasten-Prinzip

Welcher Antrieb steckt hinter der Radikalisierung junger Muslime? Dies wollten Wissenschaftler im Zuge einer Studie herausfinden. Die Ergebnisse zeigen eine "überraschende Religionsferne" und die "Macht" des Internets.

Das Wort "Salafist" auf einem Buchrücken / © Christoph Schmidt (dpa)
Das Wort "Salafist" auf einem Buchrücken / © Christoph Schmidt ( dpa )

In einem Forschungsnetzwerk des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld mit dem Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück haben Wissenschaftler nach eigenen Angaben erstmalig in Deutschland die Whatsapp-Chatprotokolle einer salafistischen Jugendgruppe analysiert. Mitglieder der Gruppe hätten im Frühjahr 2016 einen Anschlag verübt.

Das Forscherteam habe insgesamt 5.757 Botschaften aus den drei Monaten vor der Tat ausgewertet.

Ohne Verbindungen zum IS

Die Whatsapp-Gruppe habe sich als eigene terroristische Zelle ohne Anknüpfungspunkt an einen bekannten Islamprediger und Verbindung zur Terrormiliz "Islamischer Staat" gegründet, erläuterte der Bielefelder Konfliktforscher Andreas Zick an diesem Montag bei der Vorstellung der Studie in Osnabrück. Das sei ein Muster, das auch aus anderen Untersuchungen bekannt sei.

Besonders anfällig sind nach Zicks Worten junge Menschen, die sich in einer kritischen Lebensphase befinden. Auslöser könnten etwa Gewalterfahrungen durch Eltern, Tod in der Familie oder Drogenkonsum sein. "Das dschihadistische Angebot liefert ihnen Sehnsuchtsorte und die Chance auf einen Neustart genau da, wo sie von der Gesellschaft nicht abgeholt werden", sagte der Gewaltforscher.

Religionsfern

Die Protokolle belegten, dass die Mitglieder der Gruppe in einem "überraschenden Ausmaß" religionsfern seien, sagte Michael Kiefer vom Osnabrücker Institut für Islamische Theologie. Sie sprächen kein Arabisch, hätten den Koran nicht gelesen, gehörten keiner Moscheegemeinde an und bastelten sich aus Internet-Bausteinen, die ihnen passten, eine Art "Lego-Islam" zurecht: "Je kruder und einfältiger die Theorien waren, desto erfolgreicher waren sie."

Die Chat-Gruppe habe sich deutlich vom Mainstream-Islam und auch von anderen Salafisten abgegrenzt, die nicht ihrem Bild entsprachen.

Mehr Präventionsarbeit in Schulen

Islamwissenschaftler und Gewaltforscher fordern als Folge der neuen Studie mehr Präventionsarbeit in Schulen. "Wir brauchen viel mehr Kapazitäten, um Lehrer zu sensibilisieren", sagte Zick. "Wir müssen die frühen Krisen von jungen Menschen erkennen und ernst nehmen." Dafür sei die psychologische und sozialpädagogische Arbeit in Schulen sehr wertvoll.

Mit zunehmender Dauer sei die Gruppe kleiner geworden und habe sich immer mehr von der Außenwelt isoliert. Eine solche Abschottung sei typisch für Radikalisierungsprozesse, sagte Kiefer. Lehrer in Schulen könnten dies erkennen und gegensteuern. "Schulen sind mit Abstand die wichtigsten Präventionsorte." Moscheegemeinden spielten eher eine untergeordnete Rolle, weil die radikalisierten Jugendlichen dort kaum präsent seien, sagte der Islamwissenschaftler.

Zick und Kiefer forderten auch deutlich mehr Forschung, um die Präventionsarbeit zu unterstützen. Denkbar sei etwa ein Institut für Radikalisierungsforschung, damit neueste Erkenntnisse schnell in die Praxis umgesetzt werden könnten.


Quelle:
epd