Süchtige Internet-Nutzer finden aus dem Web kaum noch zurück

Virtuelle Irrgärten

Der 19-jährige Tobias aus Marburg ist internetsüchtig. "Ich bin morgens bei der Arbeit stets eingenickt", erzählt der Bauzeichner-Azubi. Nach mehreren Gesprächen musste er seinem Chef gestehen, dass er nachts wenig schläft, weil er vom Onlinespiel "War Rock" nicht lassen kann. Im Februar wandte sich Tobias an die Suchtberatung des Diakonischen Werks in Marburg. "Da ich keine Drogen nehme, dachte ich erst, ich wäre da fehl am Platz", sagt der 19-Jährige. "Aber die kannten mein Problem. Es ist eine Sucht."

Autor/in:
Stefan Höhle
 (DR)

Die Marburger Einrichtung ist dem hessischen «Fachforum Mediensucht» angeschlossen, einem von Pädagogen, Therapeuten und Ärzten initiierten Netzwerk. Diesem gehören mehr als 20 Beratungsstellen an, darunter die Hessische Landesstelle für Suchtfragen (HLS), eine Dachorganisation der freien Suchthilfe. «Die Forschung über Internetmissbrauch stellt sich einstweilen noch katastrophal dar», erklärt der 33-jährige HLS-Sozialpädagoge Thomas Graf. Und das, obwohl man das eigentliche Problem längst beschreiben könne.

Klassische Suchtkriterien
PC-Missbrauch definieren Fachleute mit den klassischen Suchtkriterien Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Wiederholungszwang - also einer Abstinenzunfähigkeit. «Je nach Persönlichkeit ist eine Abhängigkeit bei 60 oder nur 40 wöchentlichen Internetstunden gegeben», sagt Graf. Der Pädagoge kennt auch die Folgeerscheinungen: «Internetsüchtige vernachlässigen Schule oder Beruf, kommen Haushaltspflichten und Körperhygiene nicht mehr nach, verlieren ihren Freundeskreis.» Eine Suchtsituation, in der auch Tobias war.

«Nach Feierabend habe ich täglich über sechs Stunden gespielt», erzählt der Auszubildende, der in der Realschule einen Einser-Abschluss hingelegt hat. «Am Wochenende quasi nonstop», fügt er hinzu. Erst ging es in diverse Chats, danach tauchte er in «War Rock» ab, ein Onlinespiel, bei dem sich - wie auch beim etwas bekannteren «World of Warcraft» - Truppen gegenüberstehen, die sich abteilungsweise als «Clans» bekämpfen. Im Rang eines Clanführers kontrollierte Tobias die Schlachtfelder, aber nicht mehr seine private Lebensgestaltung.

«Die Online-Community der Mitspieler lässt dich nicht mehr los», berichtet Tobias. «Ständig gehst du Verpflichtungen ein, entwickelst Ziele.» Die Mitgliedschaft auf dem War-Rock-Server kostet ihn 25 Euro monatlich, plus Geld für zusätzliche Waffen, die laufend angeboten werden. Ein erfolgreicher Clan lässt sich im Netz für 100 Euro verkaufen. Zwischen den wogenden Schlachten gehen die Spieler in den Chat, den «Teamspeak», um sich über Taktiken und auch mal Privates auszutauschen. Eine Gemeinschaft zwischen Traum und Wirklichkeit.

Fast jeder zehnte Surfer abhängig
Philipp Theis, Leiter des Kasseler Diakonieprojekts «Real Live», schreibt der Online-Community «soziale Bindungen in einer virtuellen Welt» zu. Theis sowie Kollege Graf schätzen, dass zehn bis zwölf Prozent der User ihren PC «missbräuchlich» und etwa drei Prozent «pathologisch» nutzen. Nach einer Untersuchung der Suchtambulanz der Mainzer Unikliniken könne sogar bei bis zu neun Prozent der PC-Nutzer von einer tatsächlichen «Suchterkrankung» gesprochen werden. «Betroffen sind Jugendliche, Kinder, Erwachsene», berichtet Graf. Wie alle Kollegen, setzt auch er auf Prävention.

Suchtberater des hessischen Fachforums werden oft in andere Bundesländer eingeladen, wo sie in Schulen Jugendliche und Lehrer aufklären. «Internetgebrauch ist heute nach Lesen, Schreiben und Rechnen die vierte Kulturtechnik», sagt Theis. Tobias befolgt einstweilen den Rat seiner Therapeutin und «belohnt» sich immer häufiger mit «Kochen, Joggen oder einem Schaumbad» für online-freie Zeit. Und selbst ihm ist neulich angst und bange geworden. «Ich habe im Teamspeak mit einem 11-Jährigen gesprochen, der bereits 20 Stunden online war.»