Syrien-Konflikt überschreitet Landesgrenzen

Neue Eskalation

Die Gewalt in Syrien hat die Landesgrenzen überschritten. Die Türkei hat mit Granaten auf einen syrischen Angriff reagiert. Auf beiden Seiten kamen Menschen ums Leben. Doch einen Krieg zwischen der Türkei und Syrien hält Otmar Oehring, Nahostexperte der Konrad-Adenauer-Stiftung, für unwahrscheinlich.

 (DR)

domradio.de: Wie brisant ist die Lage, droht ein Krieg?

Oehring: Nach allem, was man am Morgen hören konnte, ist es wohl doch nicht zu befürchten. Der außenpolitische Berater des türkischen Ministerpräsidenten Ibrahim Kalin hat deutlich gemacht, dass die Türkei an keinem Krieg interessiert ist, also man kann hoffen.



domradio.de: Das türkische Parlament tagt heute. Was genau wird da beraten?

Oehring: Es werden grenzübergreifende Operationen der türkischen Armee beraten. Das hat es in der Vergangenheit auch schon gegeben und das würde natürlich praktisch den Weg zu einem Krieg öffnen können, muss aber nicht so sein und es ist auch in der türkischen Politik umstritten, was tatsächlich geschehen soll. Die größte Oppositionspartei, die republikanische Volkspartei, und auch die Kurdenpartei BDP sind absolut gegen ein solches Vorgehen. Da aber die AKP-Regierung eine Mehrheit im Parlament hat, ist durchaus damit zu rechnen, dass es zu einer positiven Entscheidung für entsprechende grenzübergreifende Maßnahmen kommen kann. Was dann in der Folge passieren wird, muss man abwarten. Wie gesagt, wenn wichtige Leute aus der Regierung sagen, es wird keinen Krieg geben, es soll keinen Krieg geben, dann sind hier natürlich zwei unterschiedliche Signale in die Welt gesetzt und welches dann am Ende das Entscheidende sein wird, das muss man sehen.



domradio.de: Noch immer ist unklar, von wem der Granatenanschlag am Mittwoch verübt wurde. Gibt es da neue Erkenntnisse?

Oehring: Also konkrete neue Erkenntnisse gibt es nicht. Der syrische Informationsminister hat sich gegenüber der Türkei entschuldigt, für das, was passiert ist. Man könnte natürlich unter normalen Umständen das als ein Eingeständnis der Beteiligung der syrischen Armee bezeichnen, aber er sagt auch ganz klar - und da muss man ihm Recht geben - in der Region sind auch Operationen der freien syrischen Armee zu sehen. Deswegen ist natürlich unklar, wer tatsächlich geschossen hat.



domradio.de: Die Türkei ist Mitglied der Nato. Der Nato-Rat hat sich in einer Dringlichkeitssitzung schon mit dem Fall befasst. Was glauben Sie, wie schnell wird etwas passieren?

Oehring: Also nach allem, was man am Donnerstag dazu lesen konnte, ist davon auszugehen, dass natürlich die Nato-Mitgliedstaaten an einer Deeskalation interessiert sind, auch die Türkei scheint in der momentanen Lage daran interessiert zu sein. Deswegen kann man hoffen, dass es nicht zu einer Ausweitung des Konflikts über die Grenze in die Türkei hinein kommen wird.



domradio.de: Auch der Weltsicherheitsrat ist alarmiert. Gibt es denn seitens der Türkei noch eine Kommunikation nach Syrien?

Oehring: Man kann natürlich wie in all solchen Fällen davon ausgehen, dass es weiterhin Kommunikation über die Grenzen hinweg, in diesem konkreten Fall nach Syrien, gibt. Wer und wie das nun genau funktioniert, ist natürlich unklar und unbekannt. Ich gehe aber davon aus, dass es da durchaus Drähte gibt und sei es auch über Verbündete Syriens wie zum Beispiel Russland. Der russische Außenminister Lawrow hat sich auch schon geäußert, das so etwas nicht mehr vorkommen dürfe und gegenüber der syrischen Regierung - auch wieder ein Hinweis, dass es vielleicht doch die syrische Armee war, die diesen Angriff gefahren hat - dass so etwas nicht mehr passieren darf und dass er von Syrien erwartet, dass Syrien eine Garantie abgibt, dass so etwas in Zukunft auch nicht mehr passieren wird.



domradio.de: Über 90.000 Flüchtlinge sind in die Türkei geflohen, was bedeuten diese Anschläge für die Situation der Flüchtlinge?

Oehring: Das kann natürlich bedeuten, dass die Türkei ihre Idee wieder auf das Trapez bringt, Sicherheitszonen in Syrien einzurichten und eine Flugverbotszone über solchen Sicherheitszonen einzurichten. Das würde natürlich eine weitere Stufe der Eskalierung des Konflikts bedeuten, weil damit türkische Truppen nach Syrien einmarschieren würden. Da muss man jetzt abwarten, wie sich die NATO-Gremien dazu äußern und was dann am Ende die Türkei im Einvernehmen mit den Nato-Gremien und insbesondere auch mit ihren Verbündeten, den USA, entscheiden wird.



Das Interview führte Verena Tröster (domradio.de)





Hintergrund

Das türkische Parlament hat am Donnerstag grünes Licht für mögliche Militäreinsätze im Nachbarland gegeben. Die Abgeordneten billigten mehrheitlich den Antrag der Regierung. Hintergrund des Konflikts ist der syrische Angriff auf ein türkisches Grenzdorf mit fünf Toten. Daraufhin hatte die Türkei Ziele in Syrien beschossen.

Die Zahl der Bürgerkriegs-Flüchtlinge aus Syrien hat sich nach Angaben der Vereinten Nationen seit Juni verdreifacht. Rund 310.000 Menschen aus Syrien seien bis Anfang Oktober in die Türkei, den Libanon, Jordanien und den Irak geflohen, teilte das Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Dienstag in Genf mit.



Anfang Juni waren es laut UNHCR erst 100.000 syrische Flüchtlinge in den vier Nachbarländern. Die massive Zunahme lasse eine Eskalation des Konflikts zwischen dem Assad-Regime und der bewaffneten Opposition befürchten. Das Hilfswerk befürchtet, dass die Zahl der Flüchtlinge bis Jahresende auf mehr als 700.000 steigen wird.



In Jordanien ließen sich nach UNHCR-Angaben 103.000 Syrer als Flüchtlinge registrieren oder warten darauf. Doch schätzt die Regierung in Amman, dass sich insgesamt weit mehr Syrer nach Jordanien durchgeschlagen haben. Viele von ihnen wollten sich nicht registrieren lassen.



In der Türkei fanden rund 94.000 Menschen aus Syrien Zuflucht. Zudem kamen 80.000 Syrer im Libanon als Flüchtlinge unter, im Irak zählte man etwa 33.000 geflohene Syrer. Innerhalb Syriens sind nach UN-Schätzungen bis zu 1,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder auf der Flucht vor den Kämpfen.



Syriens diktatorisch herrschender Präsident Baschar al-Assad versucht seit März 2011 einen Volksaufstand mit Waffengewalt zu ersticken. Dabei kamen nach UN-Schätzungen etwa 30.000 Menschen ums Leben.