domradio.de: Es gibt mittlerweile Berichte, dass auch Dörfer angegriffen werden, in denen der IS noch nicht einmal annähernd aufgetaucht ist. Was wissen Sie darüber?
Dr. Sadiq Al-Mousllie von der syrischen Exilopposition (Mitglied des syrischen Nationalrates): Das ist in der Tat so. Wir wissen auch von den Aktivisten und durch unsere Kontakte nach Syrien, dass sich die russischen Angriffe auf Idlib, Latakia und Vororte von Damaskus konzentrieren. Bekannterweise ist es so, dass der IS in diesen Orten gar nicht existiert. Es geht sogar so weit, dass durch Angriffe russischer Flugzeuge der IS weiter vorgedrungen ist - etwa in die Vororte von Aleppo.
domradio.de: Und wie sehr hat sich das Eingreifen Russlands mittlerweile auf die Lage der Menschen vor Ort nochmal ausgewirkt?
Al-Mousllie: Es ist fatal. In den letzten Tagen sind über 120.000 Menschen aus der Umgebung von Aleppo nach Norden geflüchtet, weil sie in diesen Orten nicht mehr sein können; natürlich auch durch die Fassbomben, die da vom Regime geworfen werden, aber hauptsächlich durch die russischen Angriffe. Erst vor einer Stunde sind durch russische Angriffe in Duma in einem Vorort von Damaskus sieben Zivilisten getötet worden. Diese Dinge passieren jeden Tag, aber die russische Führung sagt weiterhin, dass sie den IS angreift.
domradio.de: Aber da stellt sich doch die Frage: Welche Motive hat denn Präsident Putin, einen Diktator wie Assad zu unterstützen?
Al-Mousllie: Für Russlands ist Assad ein wichtiger Verbündeter in der Region. Russland will seine Militärbasis im Mittelmeer sichern. Außerdem möchte sich Russland gegenüber der Welt beweisen und seine Intervention in Syrien auch strategisch im Hinblick auf den Ukraine-Konflikt nutzen.
domradio.de: Zumindest Fortschritte soll jetzt der internationale Syrien-Gipfel in Wien bringen. Kann dieser Konflikt überhaupt noch am Verhandlungstisch gelöst werden?
Al-Mousllie: Wir sind alle überzeugt davon, dass am Ende eine Lösung stehen muss, mit der alle Seiten - zumindest die syrische Bevölkerung - zufrieden sind. Denn, ohne, dass man die syrische Bevölkerung miteinbezieht, wird man die Krise nicht lösen können. Wir müssen auch an die vielen Flüchtlinge denken. Wenn wir keine Lösung finden, werden die Flüchtlingsströme nicht weniger, die Lage wird nicht stabiler. Nach neuen Zahlen der UN brauchen mittlerweile 13 Millionen Syrer Hilfe - sechs Millionen davon sind Kinder. Das ist eine große humanitäre Katastrophe. Das heißt, die Politiker in Wien haben eine große Verantwortung. Wenn sie keine Lösung finden, die die syrische Bevölkerung auch annimmt, wird es schwer sein, diese Lösung zu bewerkstelligen.
domradio.de: In Deutschland schockieren uns im Moment Bilder von frierenden Flüchtlingen bei Nacht. Es ist sehr schwierig geworden, die vielen Flüchtlinge angemessen zu behandeln, sie in gute Unterkünfte zu bringen. Glauben Sie, dass diese Bilder die Flüchtlinge abschrecken?
Al-Mousllie: Es ist allgemein so, dass die Flüchtlinge im Winter weniger werden. Mit wärmeren Temperaturen werden wir aber wieder vor dem gleichen Problem stehen. Ich glaube, die Suche nach Schutz und Sicherheit wird nicht abreißen. Deshalb muss man die Ursachen bekämpfen und nicht einfach die Symptome. Zurzeit bekämpfen wir nur die Symptome und nicht die Ursachen.
domradio.de: Kann es denn überhaupt eine Lösung in Syrien mit Assad geben?
Al-Mousllie: Das ist ein Knackpunkt, über den wir auch reden werden - wahrscheinlich auch in den nächsten Tagen. Mit Assad wird es mit Sicherheit keine Lösung geben. Nach fünf Jahren und über 300.000 Toten wird die syrische Bevölkerung nicht hinnehmen, dass Assad weiterhin da bleibt. Das heißt, wenn Russland und der Iran nicht mitspielen, wird es möglicherweise eine Art Teilung von Syrien geben. Das heißt, es wird ein Rumpfstaat entstehen. Das wäre der Plan B der Russen in diesem Bereich, um weiterhin den Druck auf die internationale Gemeinschaft aufrecht zu erhalten.