domradio.de: Pfarrer Norbert Ellinger, Sie wohnen direkt in der Nähe des Einkaufszentrums. Sie waren an dem Tag selber bei einem Kongress in Aachen. Da waren Sie bestimmt in großer Sorge um ihre Frau und ihre fünf Kinder?
Pfarrer Norbert Ellinger (evangelische Leiter der Telefonseelsorge in München): Ja, die Sorge war natürlich direkt da. Mein Sohn ist derzeit in Brasilien. Er hat mich plötzlich angerufen und fragte: "Seid Ihr gesund, geht es Euch gut?" Ich: "Ja, was, wieso?" "Im Olympia-Einkaufszentrum wird geschossen. Weißt du das nicht?" Er wusste es vor mir - dank der sozialen Medien. Dann habe ich natürlich meine Frau und Tochter angerufen. Beide waren zum Glück nicht Zuhause. Meine Frau war in einem anderen Stadtteil mit den kleinen Kindern und meine größere Tochter war am Marienplatz. Da war erst mal Entwarnung. Aber meine Tochter musste in ein Schuhgeschäft flüchten, als am Marienplatz die Panik ausgebrochen ist. Da war sie für ein paar Stunden im Geschäft eingeschlossen.
domradio.de: Sie sind als erfahrener Seelsorger geschult für Ausnahmesituationen. Bei dieser unklaren Situation, wie sie sich am Freitagabend dargestellt hat, wie haben Sie aus der Ferne reagiert?
Ellinger: Ich habe mich ganz spontan erst mal um meine eigene Familie gekümmert - natürlich, weil wir direkt in der Nähe wohnen. Im Fernsehen war ja das Parkhaus zu sehen, auf dem der Täter stand. Genau auf der anderen Straßenseite ist unsere Wohnung im zweiten Stock. Whatsapp und das Telefon waren da sehr wichtig, weil wir uns gegenseitig immer auf dem Laufenden gehalten haben, wo wer jetzt ist und was passiert. Als die Familie dann in Sicherheit war, habe ich auch an die Telefonseelsorge gedacht und sie organisiert. Wir haben in Absprache mit der katholischen Seelsorgestelle in München und anderen unsere Kapazitäten erhöht und auch die Seelsorgen Augsburg und Ingolstadt dazu geschaltet.
domradio.de: Wir hatten jetzt mehrere Anschläge und Vorfälle in Bayern: Den Macheten-Angriff in Reutlingen, den Anschlag in Ansbach und eben München. Was hat das für Auswirkungen auf die Telefonseelsorge?
Ellinger: Das Aufkommen erhöht sich, das allgemeine Erregungsniveau ist sehr viel höher und gerade für Menschen, die psychisch angeschlagen sind, die Depressionen haben und zu unserem Hauptklientel gehören. Für sie wird die Lage noch schwieriger. Solche Nachrichten beunruhigen solche Menschen nämlich noch mehr. Und es wird noch schwieriger das auch zuzugeben.
domradio.de: Sie meinen, dass sie Angst haben in eine solche Schublade gepackt zu werden?
Ellinger: Bei uns nicht, aber im Freundeskreis haben sie Probleme damit offen umzugehen. Das wird jetzt erschwert. Denn alle Täter litten ja unter psychischen Störungen. Eine Kollegin hat erzählt, sie hatte im Gespräch eine Mutter einer depressiven Tochter. Sie hat ihrer Tochter verboten Auto zu fahren, weil sie Angst hat, sie könnte mit dem Auto in irgendeine Menschenmenge rasen. Da werden direkt Verbindungen hergestellt. Wenn der Attentäter depressiv war und so etwas tut, dann muss man sich auch vor anderen Depressiven in Acht nehmen. So ist es aber nicht, dass jeder Depressive gleich zum Amokläufer wird. Aber es wird im Freundeskreis schwieriger das zuzugeben. In der Telefonseelsorge ist ein Ort, wo diese Krankheiten bekannt sind und wo wir wissen, wie wir damit umgehen können und dass sich die Menschen auch anonym öffnen können.
Das Interview führte Silvia Ochlast.