DOMRADIO.DE: Die Präsidentschaftswahl in den USA ist auch hier in Deutschland ein großes Thema. Mit Joe Bidens Verzicht auf einen weiteren Antritt als Kandidat und dem versuchten Attentat auf Donald Trump ist dieser Wahlkampf schon historisch. Aktuell wird über Kamala Harris' Vize diskutiert: Am Ende waren noch die Namen Josh Shapiro und Tim Walz im Rennen. Sie haben schon vorab gesagt, dass Sie vermuten, dass es nicht Shapiro werden wird. Das hat sich als richtig erwiesen. Sie sind also von Harris' Wahl nicht überrascht?
Massimo Faggioli (Katholischer Publizist und Theologieprofessor an der Villanova University in Pennsylvania): Weder für mich noch für andere war das eine Überraschung. Das war eine politische Entscheidung zugunsten der Balance der Wahlkandidaten. Auch aufgrund der Wichtigkeit der Israel-Frage wurde es in den letzten Tagen immer unwahrscheinlicher, dass Shapiro nominiert würde. Deswegen ist Tim Walz eine interessante Wahl.
Ich habe sieben Jahre in Minnesota gelebt, deswegen weiß ich ein bisschen, was es bedeutet, ein Lutheraner aus Minnesota zu sein, im Sinne von Politik und auch Kultur in dieser Region der USA, die ausschlaggebend ist, um die Wahl zu gewinnen.
DOMRADIO.DE: Walz hat skandinavische Wurzeln wie viele Menschen aus Minnesota, insbesondere Lutheraner. Sie sagten, er sei eine interessante Wahl. Was macht ihn interessant?
Faggiolo: Das ist politisch interessant, weil er den linken Flügel der Demokraten beruhigt, wenn auch nicht die Einstellung zu Identitätsrechten. Er zählt zu den traditionelleren Linken innerhalb der Demokraten, in Europa würden wir sozial-demokratisch dazu sagen hinsichtlich seiner Einstellung zur Wirtschaft und der Rolle der Regierung. Das ist essentiell, um sich von dem Vize der Republikaner, J.D. Vance, abzugrenzen.
Es geht darum, den Mittleren Westen und die Arbeiter für sich zu gewinnen. Kamala Harris kommt von der Westküste, Donald Trump identifiziert sich mit der Ostküste, finanziell und kulturell. Der Mittlere Westen ist damit nicht abgedeckt. Deshalb ist Walz eine interessante Wahl als Vize. Das sagt einiges über die Einstellung der Demokraten zur Balance innerhalb des Wahlkampfes aus.
DOMRADIO.DE: Walz wäre der erste Lutheraner als Vizepräsident in den USA. In Deutschland ist die eine Hälfte der Christen evangelisch, wozu auch die Lutheraner zählen, die Konfession zu der auch Walz zählt, die andere Hälfte ist katholisch. Die USA ist in diesem Punkt diverser. Wie blicken Amerikaner auf Lutheraner?
Faggiolo: Seit einigen Jahrhunderten dominiert der Protestantismus in den USA. Die Lutheraner sind eine besondere Form dieser Tradition. Tim Walz gehört der ELCA (Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika) an, die Hauptlinie des Luthertums, die progressivere sogar. Er gehört einem Protestantismus an, den wir so noch nicht im Weißen Haus gesehen haben.
Er ist evangelisch, aber nicht evangelikal. Doktrinell und kulturell liegt er näher beim Katholizismus. Er bringt diesen Bekehrungsethos nicht in die Politik, sondern ist reserviert -man könnte sogar sagen schüchtern- bei der Rolle von Glauben im Leben eines Einzelnen.
Das Luthertum ist eine der wichtigsten religiösen Traditionen im Mittleren Westen der USA, wo – wie die Geschichte gezeigt hat – Wahlen oft entschieden werden. Die Wahl-Mehrheiten an den Ost- und Westküsten stehen meist fest. In Staaten wie Minnesota, Michigan und Wisconsin aber ist es für die Demokraten wichtig zu zeigen, dass sie auf der Seite der Arbeiter und der Mittelschicht stehen. Das haben Kamala Harris und ihr Team mit ihrer Nominierung von Walz deutlich gemacht.
DOMRADIO.DE: Walz hat katholische Eltern. Spielt das eine Rolle? In Europa ist es selten, dass Familienmitglieder ihre Konfession ändern.
Faggiolo: In Amerika passiert das häufig. Amerikaner ändern ihre Konfession und ihre Zugehörigkeit ziemlich oft, manche sogar mehrmals im Leben. Meistens machen sie das aus praktischen Gründen, beispielsweise wegen einer Heirat oder weil die Stadt, in die sie ziehen, keine Kirche ihrer Konfession hat. In Tim Walz' Fall bedeutet seine Konvertierung aber keine dramatische Änderung in seiner Weltanschauung, seinem religiösen Hintergrund, seiner Kultur oder Spiritualität.
Ich glaube, er ist Teil eines Konsenses, der dem europäischen ähnlich ist, was es bedeutet, ein Christ im öffentlichen Leben zu sein und dem Allgemeinwohl zu dienen. Aber das tut er auf eine Art und Weise, die anders ist als der europäische Gedanke. Er diente 24 Jahre im Militär, er ist stolzer Jäger und er hat sich erst vor wenigen Jahren von der Waffenkultur in Amerika distanziert. Das sind wichtige Unterschiede zu der christlich-demokratischen Kultur in Europa, wie beispielsweise bei der CDU.
DOMRADIO.DE: Zum Schluss noch ein katholischer Blick auf die Präsidentschaftswahl. Joe Biden tritt als zweiter katholischer Präsident nicht erneut zur Wahl an. Deswegen gibt es auf demokratischer Seite keinen Katholiken mehr. Die Republikaner stellen mit J.D. Vance allerdings einen Katholiken auf, der im Erwachsenenalter konvertiert ist. Spielt die Zugehörigkeit zu Religionen eine Rolle bei der Wahl oder interessiert die Wähler das nicht?
Faggiolo: Sehr wenige Wähler entscheiden sich für einen Kandidaten aufgrund seiner Religion, aber es trägt auf jeden Fall zu einem gewissen Konsens der Person bei. Ich glaube, dass viele Katholiken, die dazu neigen die Demokraten zu wählen, sehr zufrieden mit Walz sind. Er ist kulturell dem Katholizismus näher als jeder andere Kandidat, der in der Auswahl als Vize der Demokraten zur Diskussion stand.
Das ist interessant, weil er eine radikale Alternative zu dem christlichen Narrativ von J.D. Vance auf das Radar bringt, der ja erst kürzlich zum Katholizismus konvertiert ist und sehr fokussiert ist auf eine kleine Auswahl von Themen.
Die Schwerpunkte von Walz und Vance unterscheiden sich auch deutlich. Während Walz die Ansichten der Demokratischen Partei über Abtreibungsrechte mit einer leichtfüßigen Idee von Religion im öffentlichen Leben mitbringt, hat J.D. Vance einen streng religiöseren Blick auf die Dinge. Die Entscheidung, die Kamala Harris getroffen hat, ist das perfekte Gegengewicht zu J.D. Vance.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.