DOMRADIO.DE: Der in der Corona-Zeit verantwortliche Gesundheitsminister Jens Spahn hat den Satz geprägt: Wir werden einander viel verzeihen müssen. Diese Äußerung impliziert, dass in einer bisher nie gekannten Ausnahmesituation Fehler gemacht wurden und auch eigene Schuld, nicht immer richtig entschieden zu haben, eingestanden wird. Oder wie verstehen Sie als Theologe, der qua Amt mit Schuldeingeständnis, Versöhnung und Verzeihen befasst ist, diesen Satz?

Pfarrer Dr. Axel Hammes (Subsidiar in Bensberg/Moitzfeld und Geistlicher Berater der Thomas-Morus-Akademie): Prinzipiell finde ich einen Appell zu mehr Fehlertoleranz immer begrüßenswert. Denn auch Politiker sind ja keine Übermenschen und in einer Krisensituation aufs Äußerste gefordert. Dafür habe ich Verständnis. Trotzdem erlebe ich – auch losgelöst von Herrn Spahn – dass gerade die Mächtigen im Sich-Verzeihen doch sehr großzügig sind, wofür dieser Satz fast symptomatisch ist. Und deswegen hat er mich auch stutzig gemacht. Denn als Christ lebe ich daraus, dass mir ein anderer vergibt und ich nicht selbst die Instanz bin, die sich verzeiht.
Aber das gelingt eigentlich nur, wenn der ganz Andere der Herr meines Lebens sein darf, wenn ich tief in dem verankert bin, von dem ich abhängig mache, ob mein Leben im Lot ist oder nicht. Er ist derjenige, von dessen Barmherzigkeit ich lebe. Der Gott Jesu Christi gibt mir eine klare Orientierung für mein Leben, in der auch immer Auswege offenstehen bei allem, was ich an Schuld auf mich geladen habe. Aber die Voraussetzung, um eine solchen Weg zu beschreiten, ist echte Reue: dass ich tatsächlich und ungeschminkt beim Namen nenne, wo ich versagt habe. Das höre ich bei den Verantwortlichen in Kirche, Politik und Gesellschaft oft nur schwammig und verhalten.
Ein Zweites: Es geht auch um echte Bekehrung, was bedeutet, ich lerne aus den Fehlern und will jetzt erkennbar anders weitermachen als bisher. Sicher werde ich in der Umsetzung immer dahinter zurückbleiben. Aber ich muss den Vorsatz fassen – das gehört etwa zum kirchlichen Sakrament der Versöhnung unbedingt dazu – dass ich wirklich neu beginnen, anders leben will. Es kam in der Corona-Zeit nicht nur bloß zu allzu menschlichen Fehleinschätzungen, sondern es gab auch echtes Versagen und Schuld. Ohne dass Verantwortliche dies offen eingestehen, würden wir Verzeihung und Versöhnung nur simulieren.
DOMRADIO.DE: Der CDU-Politiker hat 2022 sein Zitat sogar zu einem Buchtitel gemacht. Spahn argumentiert, er habe mit diesem Satz gemeint, dass die Pandemie zu einem Test für unsere Debattenkultur geworden sei, dass Debatten in einer Demokratie auch kontrovers geführt werden müssten, wir dabei aber empathisch bleiben und nicht unerbittlich werden sollten. War Corona ein Anlass, urchristliche Werte wiederzubeleben?
Hammes: Corona hat das ohnehin schon angeschlagene Vertrauen in die Institutionen nachhaltig erschüttert. Da spielen natürlich auch die Medien und die digitale Technik eine Rolle. Aber vor allem müssen wir lernen, dass Krisenkommunikation wirklich eine besondere Kunst darstellt und dass Entscheidungen immer und immer wieder der Öffentlichkeit erklärt werden müssen, um sie nachvollziehbar zu machen. Darüber hinaus hat diese Pandemie gezeigt, wie sehr Menschen eigentlich aufeinander angewiesen sind und keiner letztlich für sich alleine wirklich gut leben kann. Was in der politischen Diskussion immer als "den Zusammenhalt stärken" bezeichnet wird, würden wir in der Kirche sicher stärker mit konsequenter Nächstenliebe verbinden, mit dem Schutz der Würde des Menschen, mit der Einsicht, dass ich wirklich des anderen bedarf und letztlich mein Leben nur in einer tragenden Gemeinschaft gelingen kann.
Mir persönlich hat Corona außerdem gezeigt, wie viele uneingestandene Ängste die Menschen umtreiben, leider auch und gerade in der Kirche. Durch eine solche lebensbedrohliche Pandemie sind sie nochmals so richtig hoch gekocht und machten die Menschen so unerbittlich, ja regelrecht aggressiv, haben sie in absoluten Alternativen verhärten lassen. Sie schienen den Boden unter den Füßen zu verlieren, weil ihnen etwas nahte, was sie so schnell nicht mit Technik, Systemen oder Programmen in den Griff bekommen.
Corona hat die Illusion erschüttert, dass der Mensch sein Leben durch immer größeren wissenschaftlichen Fortschritt umfassend steuern und kontrollieren könnte. Und mit dieser Erschütterung sind wir kollektiv nicht gut zurechtgekommen. Insofern gipfeln alle unsere Erfahrungen mit Corona in der Frage: Was schafft eigentlich Vertrauen? Und was gehört zur Basis eines Vertrauens, das auch in der Krise trägt und die Menschen nicht in Panik versinken lässt? Wie tragfähig ist unser christlicher Glaube an den Gott, der mit im Boot sitzt und es auch ans Ziel bringen wird?

DOMRADIO.DE: Katholiken – so ist immer wieder zu hören – hätten es gut, weil sie das Sakrament der Versöhnung haben und nach der Lossprechung von ihren Sünden immer wieder neu anfangen können. Die Fastenzeit lädt zur Umkehr ein, wozu auch das Schuldbekenntnis und die Beichte gehören, die allerdings zunehmend an Bedeutung verliert. Was macht es uns so schwer, Schuld einzugestehen, für eigenes Versagen gerade zu stehen und dafür Verantwortung zu übernehmen?
Hammes: In unserer Gesellschaft wird ein Menschenbild propagiert das auf Perfektion und permanente Selbstoptimierung setzt. Wenn wir unter diesem Druck stehen, dann stört jeder kleinste Fehler dieses Selbstbild. Ein Versagen, eine Schuld erschüttert uns gleichsam bis ins Mark. Das ist das eine. Das andere ist, dass uns das öffentliche Leben – gerade auch die Politik – nicht viele Vorbilder dafür liefert. Aber gerade die Repräsentanten unseres Sozialgefüges müssten den Mut haben, genau dieses Bild ins Wanken zu bringen. Natürlich macht das keiner, weil er um seine Reputation fürchtet. Aber vielleicht wäre es ja mal das Experiment wert.
Zum Glauben gehört letztlich immer auch der Mut, sich mit seinen eigenen wunden Punkten auseinanderzusetzen, wo ich ganz radikal auf Gott verwiesen bin. Er ist derjenige, aus dessen Erbarmen ich lebe. Das wäre gewiss auch eine gute Übung für uns Geistliche: nicht den perfekten, allseits zuständigen und in allem kompetenten Seelsorger herauszukehren, sondern den Menschen, der auch schon mal in Krisen gerät, an seine Grenzen stößt und sich jetzt mit den Menschen, die ihm anvertraut sind, nach Gott ausstrecken muss.
Diese Schwierigkeit mit dem Eingeständnis von Schuld stellt mich vor eine Grundfrage: Kann ich trotz allen Versagens in der Tiefe Ja zu mir sagen? In diese Tiefe komme ich, wenn ich aus etwas Unbedingtem lebe, nämlich einem Grund, der niemals zur Disposition steht, an dem ich selber vielleicht mal zweifle, auf dem mein Leben – manchmal gewiss wankend – steht. Dieses Unbedingte ist für uns dieser Gott, der sich für uns hingegeben hat und seine ausgestreckte Hand niemals zurückzieht.
DOMRADIO.DE: Schuldkultur hat christliche Wurzeln. Diffamiert wird eine solche Haltung allerdings durch den von den Rechtsextremen, Antisemiten und Holocaustleugner oft abwertend verwendeten Begriff des "Schuldkultes", der deutsche Erinnerungskultur bewusst lächerlich machen soll. Braucht es nicht aber sehr viel mehr Schuldkultur oder auch Verzeihenskultur in unserer Gesellschaft, in der gerade während der Pandemie Spannungen, Spaltungen und unversöhnliche Lagerbildungen zugenommen haben?
Hammes: In der Gedächtnisstätte Yad Vashem stoßen wir auf den Schlüsselsatz "Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". Deshalb werden mit allen Forderungen nach einem Schlussstrich Illusion und Verdrängung zum Programm erhoben. Der Theologe Johann Baptist Metz hat einmal von dem "um sich greifenden Unschuldswahn" gesprochen. Wir Menschen können wirklich nur in die Zukunft blicken, wenn wir die Vergangenheit aufgearbeitet haben. Und das ist ein Prozess, der uns immer begleitet, zumal wir Geschichte ja nicht einfach abschütteln können. Eine globale Krise wie Corona hat uns Erfahrungen der Ohnmacht, des Versagens, der Schuld vermittelt, uns Grenzen aufgezeigt und die Macht unserer Angst sichtbar werden lassen. Es kann nur gut sein, wenn wir uns dem stellen.

Denn wenn wir die Schattenseiten verdrängen, macht uns das gnadenlos. Dann müssen wir immer aggressiver gegen diese Realität anarbeiten. Und dann können wir Sicherheit nur gewinnen, indem wir ausgrenzen, abgrenzen und uns letztlich heillos gegeneinanderstellen, wie es sich an der Impf-Frage manifestiert hat, die unsere Gesellschaft fast zu entzweien drohte. Bis in Kirchengemeinden und Familien hinein sind irreparable Schäden im Miteinander entstanden. Zeitweise berechtigte nur der Impf- oder Testnachweis dazu, die Kirche zu betreten, was doch im Widerspruch zu dem ganz grundlegenden Anliegen von Kirche steht, für jeden offen zu sein – ohne wenn und aber.
Freilich fehlt jedem die Offenheit für Gegenwart und Zukunft, der sich und andere auf die Schuld fixiert. Aber Fixierungen kann ich immer nur nachhaltig überwinden, wenn ich das Vergangene annehme. Wenn ich es ständig verdränge, hat es eine viel größere Macht über mich, und ich werde nie frei.
DOMRADIO.DE: In Krisen und Zeiten der Not zeigen Menschen oft ihr wahres Gesicht, heißt es immer wieder. In Corona haben wir alle Narben davon getragen, sichtbare und unsichtbare. Haben wir daraus gelernt – aus Sicht der Kirche?

Hammes: So eine Pandemie ist ein Jahrhundertereignis. Sie verlangt eigentlich die Bereitschaft, dass man sich für diesen Lernprozess auch Zeit gibt. Das ist nicht in wenigen Wochen und Monaten erledigt. Die Menschen suchen die Kirche als einen Ort der Nähe, der Begegnung, des Berührtwerdens von einem tiefen Geheimnis. Unter allen Umständen sollte die Kirche dafür zuverlässig Raum geben. Viele Gemeinden waren meiner Wahrnehmung nach vor allem damit beschäftigt, die gesetzlichen Vorgaben überkorrekt zu erfüllen und sich ausnahmslos an alle Regeln zu halten.
Dahinter zurücktreten musste oft, wie wir unter erschwerten Bedingungen – zum Beispiel des Social distancing – immer noch unserem Auftrag gerecht werden können. Also war die Fragestellung verkehrt worden. Wieder wollte die Institution vor allem öffentlich gut dastehen. Wir hätten uns aber – und das gilt auch für andere traumatische Erfahrungen in der Kirche – zuallererst an den Menschen orientieren müssen: gerade an den Schutzbefohlenen, Kleinen und Schwachen, die uns besonders brauchen und zu denen uns der Herr der Kirche vor allen anderen senden will. Mit Corona ist uns nochmals der außerordentliche Wert der persönlichen Seelsorge bewusst geworden. Und da ist in Corona-Zeiten auch mehr geschehen, als von außen zu sehen war.
DOMRADIO.DE: Können wir uns denn für zukünftige Ereignisse dieser Art wappnen?
Hammes: Manchmal bin ich erschrocken, wie technisch wir eigentlich in der Kirche mittlerweile über unsere pastoralen Aufgaben sprechen und dabei völlig vernachlässigen, dass es um konkrete Menschen, ihr persönliches Fragen und Suchen, ihre Nöte und Ängste geht, dass sie letztlich genau da auch den Dienst der Kirche brauchen. Da müssen wir als Kirche zur Stelle sein, da bewährt sich unser Dienst. Corona hat uns gezeigt, wie vereinzelt die Menschen im Grunde sind. Und diese Vereinzelung hat nach der Pandemie doch nicht aufgehört, sie hat sich vielleicht nur unserem Sichtfeld entzogen.
Wir sind leibhaftige, leibgebundene Wesen und haben ganz konkrete Bedürfnisse, die nicht nur organisatorisch oder auf einer sachlichen Ebene erfüllt werden können. Zu einem menschenwürdigen Leben gehört die persönliche Zuwendung. Deswegen sind die Gesten auch so wichtig, die mit unseren Sakramenten verbunden sind: die Handauflegung, der Segen oder die Umarmung beim Friedensgruß. Mir ist damals, als das alles über eine lange Zeit nicht möglich war, nochmals neu bewusst geworden, welcher Zuspruch darin eigentlich steckt und wie berührend das war, nach den ersten Lockerungen Menschen, die einem wirklich viel bedeuten, wieder umarmen zu können.
Klar können wir Präventivmaßnahmen ergreifen: einander mehr zuhören, sich selbst und das eigene Verhalten immer wieder hinterfragen, Schuld eingestehen und – ja – einander verzeihen. Damit würden wir uns auf einen Weg machen, der zur Heilung der Risse und Gräben führen kann. Christen können auf diese Weise ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten, die kein Tribunal sein soll. Sie glauben schließlich an einen zugewandten Gott, der die Menschen unbedingt liebt und ihnen ihre Schuld vergibt.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.