Theologe Lob-Hüdepohl zu Behinderung in Gesellschaft und Kirche

Keine Tabus

Rund 200 Experten aus Behindertenhilfe, Theologie und Sozialwissenschaft treffen sich ab Donnerstag in Heidelberg zum Kongress "Behinderung - Theologie - Kirche". Der Berliner Ethiker Andreas Lob-Hüdepohl erzählt, welche Impulse das Fachtreffen für eine bessere Teilhabe in Gesellschaft und Kirche für Menschen mit Behinderungen geben will.

 (DR)

KNA: Was ist das Ziel der von der evangelischen und katholischen Kirche gemeinsam ausgerichteten Tagung?

Lob-Hüdepohl: Wir wollen das soziale Phänomen "Behinderung" stärker in den Blick des theologischen Nachdenkens rücken. Denn viel zu oft beschränkt sich der Blick allein auf medizinische oder bioethische Fragestellungen. Der Umgang mit Menschen mit Behinderungen ist in unserer Gesellschaft aber alles andere als allein ein medizinisches Problem. Beispielsweise wollen wir deutlich machen, dass Behinderung nicht einfach unumstößlich da ist, sondern Behinderung bedeutet, in Folge von körperlichen oder geistigen Einschränkungen vom normalen Leben der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Und diese Ausgrenzung umfasst häufig auch den kirchlichen Bereich.



KNA: An wen richtet sich der Kongress?

Lob-Hüdepohl: Die meisten der rund 200 Teilnehmer arbeiten in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder sind Seelsorger aus Gemeinden und Verbänden, die sich in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen engagieren. Diese erfahrenen Praktiker treffen dann auf renommierte Wissenschaftler, die mit ihnen neue Ansätze und Erkenntnisse diskutieren.



KNA: Warum ist Behinderung überhaupt ein Thema für die Kirchen?

Lob-Hüdepohl: Zunächst einmal sind die beiden Kirchen in Deutschland mit Abstand die größten Träger von Behinderteneinrichtungen: seien es Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten und natürlich stationäre Einrichtungen. Die große Aufgabe der Kirchen liegt aus meiner Sicht aber darin, Menschen mit Behinderung in ihrer Lebenswelt zu fördern. Ihnen eine Teilhabe an möglichst vielen Facetten des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen.



KNA: Was bedeutet das innerkirchlich?

Lob-Hüdepohl: Kirche muss auch ihre eigene Seelsorge so gestalten, dass Menschen mit Behinderung nicht ausgeschlossen werden. Also etwa einen Jugendlichen mit Trisomie 21 als Ministrant in das normale kirchliche Leben einbeziehen.



KNA: Immer wieder scheitert dieser Anspruch aber in der Praxis - etwa wenn ein Pfarrer ein geistig behindertes Kind nicht zur Erstkommunion zulassen will...

Lob-Hüdepohl: Dieser Fall ist natürlich eine Katastrophe und widerspricht dem Geist des Evangeliums. An diesem Beispiel wird aber eine Ambivalenz in der christlichen Theologie im Umgang mit Behinderung deutlich. Denn die Kirche verfügt einerseits über die Tradition, gerade die Ausgegrenzten und Ausgestoßenen ins kirchliche Leben einzubeziehen. Hier lässt sich leicht ein Bezug zum Handeln Jesu in den Evangelien herstellen, der ja gerade auf Ausgegrenzte zuging.



Andererseits wissen wir, dass es zugleich kirchliche Traditionen gab, die Ausgrenzung beförderten. Etwa die Vorstellung, dass eine Erkrankung oder Behinderung als eine gerechte Strafe Gottes zu sehen ist.



KNA: Sind diese Vorstellungen bis heute verbreitet und wirksam?

Lob-Hüdepohl: Ja, und sie kommen immer wieder hoch. Etwa wenn Eltern ein behindertes Kind bekommen und sich dann fragen: "Was habe ich nur getan, dass Gott mich so bestraft?" Der Gedanke, dass Krankheit oder Behinderung einen Grund im eigenen Versagen hat, der ist ganz tief verwurzelt. Übrigens nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen. Und genau hier anzusetzen und entgegenzuwirken, ist heute eine wichtige Aufgabe der Theologie.



KNA: Wie gehen die Kirchen und kirchliche Behinderteneinrichtungen mit dem Thema Sexualität und Behinderung um?

Lob-Hüdepohl: Ich nehme innerhalb der Einrichtungen einen sehr behutsamen und sensiblen Umgang mit den sich ergebenden Fragen wahr. Öffentlich dagegen ist das Thema Sexualität und Behinderung weiter sehr stark tabuisiert. Das hängt auch mit einer stark reduktionistischen Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen zusammen: Sie werden noch immer viel zu sehr als leidende, eingeschränkte Personen und nicht als Menschen wahrgenommen, die oft in sehr vielen Bereichen sehr aktiv unterwegs sind.



KNA: Haben Behinderte ein Recht auf Sexualität?

Lob-Hüdepohl: Selbstverständlich, denn Sexualität ist eine Grunddimension menschlicher Lebenswirklichkeit. Sie nicht zuzulassen, ist ein klarer Angriff auf die Menschenwürde. Leiblich gebundene Kommunikation zwischen Menschen mit geistiger Behinderung ist als besondere Form der Beziehungsaufnahme sehr wichtig. Dies bedeutet aber umgekehrt nicht, dass alle denkbaren Formen sexueller Aktivität unterstützt werden dürfen oder müssen.



KNA: Was etwa, wenn Menschen mit geistiger Behinderung selbst Kinder bekommen wollen?

Lob-Hüdepohl: Sie haben grundsätzlich ein Recht auf Fortpflanzung. Eine Sterilisation oder zwangsweise Verabreichung von Kontrazeptiva verstößt gegen deutsches Recht und gegen die Menschenrechtskonvention. Es braucht in diesem Fall aber natürlich eine angemessene und sorgfältige Begleitung. Untersuchungen belegen übrigens, dass meist sehr viel weniger Probleme auftauchen, als man vielleicht als Außenstehender befürchten würde, wenn Frauen mit Behinderung ein Kind bekommen.



KNA: Zeigen die Debatten um die Präimplantationsdiagnostik oder die Sterbegleitung, dass das Ideal vom gesunden, fitten und selbstbestimmten Menschen immer mehr an Einfluss gewinnt?

Lob-Hüdepohl: Ja, ich beobachte eine schleichende und zunehmende Abwertung von Menschen mit Behinderung. Jede kleine Abweichung vom Gesundheitsideal wird als defizitär wahrgenommen. Beispielsweise werden in Deutschland kaum noch Kinder mit Trisomie 21 geboren. 95 Prozent aller dieser Kinder fallen aufgrund vorgeburtlicher Tests einer Abtreibung zum Opfer. Umgekehrt bleibt indes festzuhalten, dass unsere Gesellschaft sehr viel Geld und Engagement aufwendet, um Menschen mit Behinderungen zu begleiten und zu unterstützen.



KNA: Auf welchen Ertrag des Kongresses hoffen Sie?

Lob-Hüdepohl: Ein Erfolg wäre, wenn sich die Teilnehmer gemeinsam bestärkt fühlten für das schwierige und doch so wichtige Projekt, Menschen mit Behinderungen mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Es geht um neue Ideen und Konzepte für die Wandlung hin zu einer inklusiven Kirche und Gesellschaft.



Das Interview führte Volker Hasenauer (KNA)