Theologe wirbt für eine Neuentdeckung von Stolz

"Es geht nicht um ein Abarbeiten von Regeln"

In der katholischen Morallehre gilt der Stolz als eine der sieben Todsünden. In seinem Buch "Über den Stolz" wirft Henning Theißen einen neuen Blick auf das Gefühl. Im Interview erklärt der Theologe, warum Stolz auch gute Seiten hat.

Symbolbild Daumen hoch / © William Perugini (shutterstock)
Symbolbild Daumen hoch / © William Perugini ( shutterstock )

KNA: "Ich bin stolz auf meine Mannschaft" - das hört man eher als die Aussage "ich bin stolz auf meine Leistung". Warum?

Prof. Henning Theißen (Theologe und Autor): Das hängt damit zusammen, wie wir umgangssprachlich über Stolz sprechen. Wie Menschen ihn empfinden, ist noch einmal etwas anderes. Im Vordergrund steht stets die Vorstellung, dass der Stolz einen Bezug zu mir hat. Er bezieht sich auf etwas, das ich mir zugute halte, auch wenn ich es nicht selbst geleistet habe.

KNA: Gibt es also verschiedene Formen von Stolz?

Theißen: Beim Leistungsstolz oder auch beim Nationalstolz haben Menschen das Gefühl: Das habe ich selbst vollbracht – oder ich ordne mich denen eng zu, die es vollbracht haben. Als Theologe erkenne ich gegenüber diesen beiden Formen von Stolz gewisse Vorbehalte. Eine zu starke Leistungsorientierung scheint der christlichen Vorstellung zu widersprechen, dass der Mensch nichts erringen muss, um Seelenheil zu erlangen. Nation ist ebenfalls problematisch besetzt – ein Satz wie "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein" löst geradezu Aversionen aus.

KNA: Als "Tugend" würden den Stolz vermutlich nur wenige bezeichnen. Was spricht dafür, ihn wiederzuentdecken?

Theißen: Neben Leistungs- und Nationalstolz würde ich noch eine dritte Form nennen: den Persönlichkeitsstolz. Diese Form kann durchaus tugendhaft sein. Psychologisch betrachtet spielt der Stolz eine interessante Rolle in der Beziehung zum "intimen anderen", also der Paarbeziehung.

KNA: Was bedeutet das?

Theißen: Menschen in Liebesbeziehungen wollen von ihrer bestmöglichen Seite gesehen werden – was einerseits selbstbezogen ist, andererseits aber auch ein Anstoß für eine Entwicklung der Persönlichkeit sein kann. Es ist hilfreich, an sich zu arbeiten - mit einem Gegenüber, das man ernstnimmt, als Maßstab. In der Theologie wird vom Gottesverhältnis, Weltverhältnis und Selbstverhältnis des Menschen gesprochen. Man braucht aber auch das, was gewissermaßen zwischen Welt und Selbst liegt, also eben die intimen Beziehungen. Es lohnt sich, diese Beziehungen genauer in den Blick zu nehmen.

Henning Theißen (Theologe und Autor)

"Es geht um einen Ausgleich zwischen dem eigenen Ehrgeiz und dem Sichzurücknehmen."

KNA: Ein gesundes Verhältnis zur eigenen Persönlichkeit führt also auch zu besseren Beziehungen?

Theißen: Es geht um einen Ausgleich zwischen dem eigenen Ehrgeiz und dem Sichzurücknehmen. In einer Liebesbeziehung möchte man gut dastehen, möchte aber auch, dass das Gegenüber diesen Ehrgeiz nicht als abstoßend wahrnimmt.

Dieser Mechanismus kann tugendhaften Stolz ermöglichen: Bestimmte Verhaltensweisen, die beispielsweise reine Selbstdarstellung sind, kann ich ablegen – ohne in eine falsche Bescheidenheit gegenüber mir, meinem Tun und meiner Leistung zu kommen.

KNA: Wer hat überhaupt Einfluss darauf, wie bestimmte Haltungen oder Eigenschaften wahrgenommen werden?

Theißen: Wie wir uns wahrnehmen, hängt von den Überzeugungen und Orientierungen ab, die wir haben. Die christlichen Kirchen waren mit ihrer kritischen Haltung zum Stolz sehr wirkmächtig. Man übersieht aber schnell, dass ihre Vorstellung vom Stolz nicht aus dem Nichts gewachsen ist.

KNA: Wie ist sie entstanden?

Theißen: Das Menschenbild hat sich gewandelt: zugespitzt gesagt von den aristotelischen Tugenden, die einen freien, besitzenden, männlichen Menschen im Blick haben, hin zu einem Menschenbild, das im Zusammenhang von Schöpfung und Sündenfall steht. Die mittelalterliche Kirche sah sich insbesondere dafür zuständig, die Schwierigkeiten des Gewissens zu lindern. Dafür gab sie ein Lebensmuster vor: Wenn diese Morallehre befolgt wird, ist Heilung möglich - und die Frage, was ich errungen habe, ist weniger entscheidend.

KNA: Wären die Kirchen heute gefragt, sich stärker mit solchen Fragen zu befassen?

Theißen: Ich würde sagen: ja. Allerdings gehören Themenfelder wie Paarbeziehung nicht der Kirche. Natürlich kann sich die Kirche dazu äußern, aber im Bereich der Lebensberatung ist sie ein Player unter vielen. Eine Kirche, die eine Einbettung des Christseins in die sonstige Lebenswelt akzeptiert, wird mehr zu sagen haben als eine, die christliche Bastionen verteidigen will.

Tatsächlich scheint es derzeit für die Kirche stark darum zu gehen, eine gesellschaftliche Position zurückzugewinnen - und das ist bei den Lebensfragen eher kein Thema.

KNA: Ist eher jede und jeder Einzelne gefragt, ein anderes Verhältnis zum Stolz zu entwickeln - oder eher Institutionen, die Wissenschaft, die Gesellschaft als Ganzes?

Theißen: Das Thema kann jeden und jede Einzelne ansprechen. Zugleich gibt es Institutionen, die sich mit Fragen der Tugendethik noch stärker befassen könnten. Im Religionsunterricht hat das Thema Werte wieder Konjunktur, was in eine ähnliche Richtung geht. Grundsätzlich gilt: Alle Tugenden verbinden sich mit einem Menschenbild. Momentan gewinnt die Frage an Dringlichkeit, was überhaupt zu einem wirklich universellen Menschenbild gehören kann.

KNA: Viele würden wahrscheinlich antworten: die Menschenrechte.

Theißen: In der Tat. Doch diese Überzeugung wiederum führt zu der Frage, ob wir das, was wir theoretisch allen Menschen zugestehen, in der Praxis auch wirklich einlösen. Wer mit Tugenden oder Werten arbeiten will, muss sich daher mit dem Menschenbild auseinandersetzen: Man kann Werte nicht einfach durchsetzen, sondern muss sie in der Diskussion behaupten.

KNA: Die Beschäftigung mit Todsünden scheint momentan en vogue zu sein. Woran liegt das?

Theißen: Der Reiz liegt wohl in der Handlichkeit dieser Lasterkataloge. Es ist sehr konkret und anschaulich zu sagen: Meide dieses, tue jenes. Allerdings ist der Sinn von Tugenden nicht, vorzugeben, was Menschen tun oder lassen sollen.

Es geht nicht um ein Abarbeiten von Regeln, sondern darum, zu erkennen, wie ich mich bilden soll, damit ich gut handeln kann. Abgesehen davon sind Imperative wie "Vermeide die Völlerei" oder "Sei nicht zornig" nicht wirklich sinnvoll. Wer zornig, gierig oder eben hochmütig ist, handelt ja nicht planvoll. Tugend ist eine Voraussetzung für das gute Handeln – und nicht selbst das Gute.

Das Interview führte Paula Konersmann.

Quelle:
KNA