"Die Eingewanderten hat man in Jerusalem 'Jeckes' genannt, weil sie ihre Lebensform aus Deutschland mitgebracht haben", erzählt Dr. Thomas Sparr. "In Köln muss man diesen Begriff erklären. Das hat mit dem 'Karnevals-Jeck' nichts zu tun, sondern mit dem Jacket und Schlips, den man trug. Selbst bei den warmen orientalischen Temperaturen wurde auf den Anzug nicht verzichtet."
'Grunewald im Orient' so wurde der Stadtteil Rechavia in Jerusalem genannt, der zum Zufluchtsort für viele Juden wurde, die in den 30er Jahren vor den Nationalsozialisten fliehen mussten. Den Beinamen 'Grunewald im Orient' bekam der Stadtteil, weil er ursprünglich als Gartenstadt angelegt worden war. "Das war ein Stadtteil mit parkähnlichen Anlagen, Gärten, Blumenrabatten", sagt Dr. Sparr. "Das gehörte eigentlich gar nicht ins Jerusalem jener Zeit, sondern eher nach Europa." Ein europäisches Modell sei das gewesen, das man mit orientalischen Mustern verbunden habe.
Rechavia war ein Sehnsuchts- und Zufluchtsort für deutsche Juden
Diese europäische Modellstadt wurde schon in den 20er Jahren von jungen idealistischen Juden aus Europa konzipiert und gebaut. "Das waren Pioniere der ersten Stunde, die aus zionistischen Motiven kamen", erläutert Sparr, "aber was heute Zionismus heißt, hieß es damals nicht, sondern das war eine Bewegung, die eine eigene, eine jüdische Heimat gründen wollte, einen eigenen Staat, ein eigenes Gemeinwesen. Das waren in der Regel ganz junge Menschen und vor allem Juden aus Deutschland."
Später, in den 30er Jahren, kamen immer mehr Juden nach Rechavia, die aus Deutschland fliehen mussten. Damals habe es erhebliche Spannungen gegeben, schildert Thomas Sparr das Aufeinandertreffen der beiden aus ganz unterschiedlichen Motiven nach Jerusalem kommenden Gruppen. "Den später Ankommenden stellte man die Frage 'Kommt ihr aus Zionismus oder kommt ihr aus Deutschland?' Und wenn sie in den 30er Jahren aus Deutschland kamen, so kamen sie in der Regel der Not gehorchend – auf der Flucht", erklärt Sparr.
Der Rückweg nach Deutschland war versperrt
Die meisten deutschen Juden kehrten auch nach Kriegsende nicht nach Deutschland zurück. Thomas Sparr bezeichnet es als eine Tragik dieser Generation, dass ihnen der Rückweg nach Deutschland versperrt blieb: "Durch die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft und einer völlig aus den Fugen geratenen Welt war es gar nicht möglich zurückzukehren. Und auch die deutsch-israelischen Annäherungen waren unendlich erschwert. Bis heute ist deutsch kein Unterrichtsfach in Israel. Es sollte längst eins sein, aber das hat historische Gründe."
Der Autor Thomas Sparr lebte in den 80er Jahren länger in Jerusalem. Damals lernte er viele deutsche Juden in der Gartenstadt Rechavia kennen, zum Beispiel den Literaturhistoriker und Bibliothekar Werner Kraft aus Hannover. "Er hat in Israel nie richtig Hebräisch gelernt", sagt Sparr. "Mit seinen Kindern hat er nur Deutsch gesprochen. Bei den Enkelkindern musste er warten, bis sie Englisch gelernt haben, damit er sich mit ihnen verständigen konnte." Solche Spannungen und Brüche habe es häufig in den Familien gegeben, beschreibt Sparr die Situation der geflohenen Juden in Jerusalem.
Viel Prominenz lebte in der Gartenstadt, in Rechavia. Die Dichterinnen Mascha Kaleko und Else Laske-Schüler oder der Religionsphilosoph Martin Buber. Der Stadtteil in Jerusalem war ein Zentrum deutscher Musik, Literatur und Kunst. "Es gab aber auch viele Menschen, die man vergessen hat und an deren Schicksal ich mit diesem Buch auch erinnern möchte", sagt der Autor, "Menschen, die nicht wirklich Fuß gefasst haben. Es gab viele Selbstmorde und Unglück, vor allem Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre, als man dann von den Massendeportationen und den Morden an den europäischen Juden erfuhr."
Rechavia, das 'Grunewald im Orient', der von deutsch-jüdischer Kultur geprägte Stadtteil in Jerusalem, ist heute verschwunden. "Heute gibt es das nicht mehr", sagt Sparr. "Es gibt es als Erinnerung und als Überlieferung. Aber es gibt eine große Neugierde, vor allem unter jungen Israelis, die interessieren sich für die Geschichten ihrer Großeltern und heute auch schon Urgroßeltern."