domradio.de: Was ist das erste, was Ihnen einfällt, wenn Sie an Konrad Adenauer denken?
Andreas Püttmann (Politikwissenschaftler, Publizist): Da fällt mir seine Bundestagsrede aus dem Dezember 1952 ein, wo er die berühmten Sätze sagte: "Wir stehen vor der Wahl zwischen Sklaverei und Freiheit. Wir wählen die Freiheit!" Ich glaube, das bringt sehr gut seine Prioritäten auf den Punkt.
domradio.de: Wie rheinisch-katholisch war Deutschland nach 1945 und was ist davon noch übrig?
Püttmann: Quantitativ war die frühe Bundesrepublik noch knapp mehrheitlich evangelisch mit 25 Millionen Protestanten und 23 Millionen Katholiken. Manche Protestanten waren natürlich unglücklich, dass sich ihre konfessionelle Dominanz verloren hatte und Adenauer ein Kabinett bildete, in dem zehn von 14 Ministern katholisch waren. Etwa der evangelische Theologe Martin Niemöller: Er ätzte dann auch, die Bundesrepublik sei ein Kind, das in Rom gezeugt und in Washington geboren worden sei. Die katholische Kirche wurde auch als "fünfte Besatzungsmacht" verschrien. Aber das ist sicher übertrieben.
Jedenfalls hatte Adenauer keine antiökumenische Haltung. Er hat ja auch die überkonfessionelle CDU mit gegründet und nicht weiter die Zentrumstradition verfolgt. Er war auch nicht klerikal, sondern wusste sich bisweilen zu distanzieren von kirchlichen Autoritäten. Also man kann nicht sagen, dass Adenauer eine systematische Katholisierung der Republik betrieben hätte. Das sind historische Überzeichnungen.
domradio.de: In seiner Politik spielte neben der sozialen Marktwirtschaft auch die deutliche Westbindung der BRD eine große Rolle. War das nicht auch ein Schüren des Kalten Krieges?
Püttmann: Nein, "schüren" kann man das keinesfalls nennen. Adenauer hat den Kalten Krieg für eine Wertentscheidung in Kauf genommen. Diese Wertentscheidung hieß: Freiheit vor Einheit. Das hat er in der Politik so durchgezogen. Er verfolgte die Magnettheorie: dass ein prosperierendes, freies Westdeutschland auf die Dauer eine solche Anziehungskraft auf die DDR-Bürger ausüben würde, dass es früher oder später zur Wiedervereinigung Deutschlands käme. Im Grunde hat sich dieses Konzept 1990 mit der Wiedervereinigung auch bewahrheitet. Allerdings hatte er gedacht, dass der Zusammenbruch des Kommunismus innerhalb von vielleicht zehn Jahren passieren könnte. So schnell ging es dann doch nicht.
domradio.de: Jetzt steht ja die Europäische Union so ein bisschen auf der Kippe, wird immer mal wieder in Frage gestellt. Aktuell mit dem Brexit-Votum in England. Welchen Anteil hat Adenauer an der heutigen Europäischen Union?
Püttmann: Einen riesengroßen Anteil - und zwar in dreifacher Hinsicht: Zunächst hat er Deutschland nach der Nazi-Diktatur und dem Zweiten Weltkrieg für seine Nachbarn und Partner wieder vertrauenswürdig gemacht. Zweitens stellte er den Deutschen die Vision eines vereinigten Europas vor Augen, bis hin zur gemeinsamen Verteidigung durch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG), die aber 1954 im französischen Parlament scheiterte. Vor allem zu nennen sind die Römischen Verträge, Meilensteine der europäischen Integration. (Anm. d. Red.: Am 25. März 1957 unterzeichneten sechs europäische Staaten die Verträge in Rom – und schufen damit die Voraussetzungen für einen europäischen Wirtschaftsraum.) Und drittens: Dieser Europäischen Gemeinschaft hat er einen Motor gegeben, indem er die sogenannte Erbfeindschaft mit Frankreich abgelöst hat durch eine wirkliche Freundschaft, die schon in Jugendaustauschprogrammen beginnt.
domradio.de: Jetzt war er auch ein Machtmensch, der es mit der Wahrheit auch nicht immer so genau nahm und auch nach seinem Rückzug aus der Politik hat er sich noch stark eingemischt. Wie beurteilen Sie die charakterliche Schwäche angesichts der historischen Leistung?
Püttmann: Naja, es ist ja mit der charakterlichen Schwäche so eine Sache in der Politik. Denken wir an den berühmten Philosophen und Politiker, Niccolò Machiavelli. Der sagte schon, dass Politik nicht nur ein Verfolgen von hehren Zielen sei, sondern immer auch ein Kampf um Macht mit manchmal nicht ganz moralischen Mitteln. Ich neige dazu, die Finessen Adenauers, seine Bluffs, Vereinfachungen und kleinen Unwahrheiten entsprechend dem Wort: Man muss immer die Wahheit sagen, aber die Wahrheit nicht immer sagen, die sicherlich menschlich und charakterlich nicht immer schön waren, zu verzeihen, weil seine Grundentscheidungen richtig waren. Schwerwiegende Verstöße gegen das demokratische Ethos waren bei ihm nicht festzustellen. Wenn er mal über die Strenge schlug, vor allem in den letzten Jahren, wie etwa mit der Spiegel-Affäre, den Plänen für ein regierungsnahes Deutschland-Fernsehen oder seinen Ambitionen auf die Präsidentschaft mit einer veränderten Verfassungsinterpretation, dann ist er doch wieder zur Vernunft gekommen oder gebracht worden. Insofern würde ich sagen, man kann hier angesichts der Gesamtleistung nachsichtig sein.
Das Interview führte Tobias Fricke.