In der Bibel werden verschiedenste Ereignisse beschrieben, in denen jemand absichtlich sein Gewand zerreißt. Befremdlich aus heutiger Sicht. Mancher mag an einen Materialfehler denken; doch das wird dem Ernst der Situation keineswegs gerecht. Im Judentum drückt das Zerreißen der Kleidung - wortlos - Trauer aus, aber auch andere tiefe Gefühle wie Verzweiflung, Demütigung oder Empörung. Eine extrovertierte Geste - ganz anders als der heutige Trend, Trauer zu verdrängen und sich "doch bitte zu beherrschen" oder "zusammenzureißen" - oder im Zweifel lieber ein Beruhigungsmittel zu nehmen, als seine urmenschlichen Gefühle herauszulassen.
Ausdruck für Schmerz und Trauer
Am häufigsten steht das biblische Zerreißen der Kleider für den Schmerz über den Verlust eines Menschen. Das Judentum sieht den Tod als ein "zweischneidiges Schwert". Wer einen geliebten Menschen verliert, verliert gleichzeitig einen Teil von sich selbst; und dieser Schaden ist erst mal nicht zu ersetzen. Die Trennung ist endgültig - in der einen Welt; und doch bleiben die Seelen miteinander verbunden - unzertrennlich.
Mit dem Zerreißen der Kleider erkennt der Trauernde die diesseitige Trennung an, die Unwiederbringlichkeit des Verlorenen. Zugleich bekennt er die Endlichkeit und die Tatsache, dass der Körper gleichsam nur ein Kleid für die Seele ist. Der Tod ist der Moment, dieses Kleid abzulegen. Wenn auch das Kleid zerrissen ist, so tritt die Person doch nur in einen anderen Zustand ein.
Schilderungen im AT
Die Situationen im Alten Testament, in denen Männer ihr Gewand zerreißen, sind sehr verschieden. Der unglückliche Hiob etwa tut es, als er die Nachricht erhält, dass all seine Kinder tot sind (Hiob 1,18-20). Ruben, der älteste Sohn des Jakob, hatte zusammen mit seinen Brüdern den Jüngsten, Josef, aus Neid in einen Brunnen geworfen (Gen 37,18-35); ihn zu töten, lehnte er als einziger ab. Nun kehrt er aus Reue zurück; doch der Brunnen ist leer, und er muss glauben, Josef sei getötet oder verschleppt oder von einem wilden Tier gefressen worden. Stattdessen haben ihn die anderen Brüder als Sklaven verkauft. Aus Verzweiflung zerreißt Ruben seine Kleider - wie auch sein Vater Jakob, als er die vermeintliche Todesnachricht hört.
Vor dem Hohepriester Eli erschien ein Bote "mit zerrissenen Kleidern" (1 Sam 4, 12-17). Seine Botschaft: Die Israeliten haben den Kampf gegen die Philister verloren; Elis beide Söhne sind tot und die Bundeslade erbeutet. Und als Joschija, der König von Juda kurz vor dem Babylonischen Exil, die Worte des Gesetzes hört und er erkennt, wie falsch sich sein Volk verhält, zerreißt auch er seine Kleider (2 Kön 22, 8-13).
In den Augen Gottes hat das Zerreißen der Kleider allerdings nur dann einen Wert, wenn es für aufrichtige Reue steht. Daher gebietet er seinem Volk: "Zerreißt eure Herzen und nicht eure Kleider - und kehrt um" (Joel 2,13).
Auch im NT gegenwärtig
Auch im Neuen Testament begegnet uns das Phänomen. Der Hohepriester Kaiphas wird beim Verhör Jesu wütend und zerreißt sein Gewand, weil er die Entgegnungen Jesu für Gotteslästerung hält (Mt 26, 59-66). Er folgt damit einer alten rabbinischen Tradition, die jeden dazu verpflichtet, der eine Lästerung des Gottesnamens hört.
Und auch auf einer Meta-Ebene schildert der Evangelist Matthäus die Zerstörung eines kultischen Textils. In der Karfreitagsliturgie heißt es beim Kreuzestod Jesu: "Da riss der Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei" (Mt 27,51). Eine Symbolik, die den Gläubigen betroffen macht. Aber warum eigentlich? An der Oberfläche scheint es eine Analogie zu der beschriebenen Verlust- und Trauerhandlung. Hat nicht Gott selbst soeben seinen Sohn verloren?
Zugang zum Allerheiligsten
Doch aus jüdischer Sicht ist diese Schilderung des Matthäus noch viel mehr. Sie ist nicht weniger als eine theologische Zumutung. Denn dieser Vorhang des Tempels verschloss damals den Zugang zum Allerheiligsten. Nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, durfte es der Hohepriester betreten. Dort war die Bundeslade aufbewahrt und darin die beiden Tafeln mit den Zehn Geboten, der Stab des Aaron und der Krug mit dem Manna aus der Wüste.
Der Hohepriester bat dort Gott um Vergebung der Sünden des Volkes Israel. Einem Widder, dem Sündenbock, wurden jene Sünden symbolisch auferlegt, und er wurde damit in die Wüste geschickt. Mit dem Tod Christi zerreißt der Vorhang, und ein neuer Hohepriester tritt sein Amt an; einer, der nicht aus dem Geschlecht der Leviten stammt: Jesus Christus, der Sohn Gottes, wie es im Hebräerbrief heißt. Mit seinem Tod öffnet sich allen, die an ihn glauben, das Allerheiligste.
Alexander Brüggemann