Hohe Mauern umgeben den ehemaligen Franziskanerkonvent in Tyros. Erklimmt man das obere Stockwerk, öffnet sich die Sicht auf das Meer, und wer sich aufmacht auf das Dach des vierflügeligen Gebäudes, wird mit einem Blick auf den historischen Kern der Phönizierstadt im heutigen Libanon belohnt. Seit der Franziskanerorden 2006 den Konvent und die dazugehörige Schule aufgegeben hat, sind die Gebäude still und leer. Bald, so hoffen die Franziskaner, soll sich das ändern: Zehn Flüchtlingsfamilien und bis zu 60 Kriegswaisen sollen die 4.000 Quadratmeter am Meer erneut mit Leben füllen. Das Projekt heißt "Accueil en famille", Familienhaus. Getragen wird es von der gemeinnützigen "Johannes Paul II.-Stiftung" zusammen mit der lokalen Partnerorganisation "Insan".
Der Leerstand und das feucht-heiße Seeklima haben ihre Spuren hinterlassen. Farbe blättert von den Wänden der gewölbten Korridore; auf den wenigen Möbeln sammeln sich Staub und feiner Sand. Nur einmal die Woche, sonntags, kommt ein Pater aus Beirut, um mit der lateinischen Pfarrei Gottesdienst zu feiern. Daran, sagt der Landesverantwortliche der Stiftung, der Franziskaner Toufic Bou Merhi, soll sich auch künftig nichts ändern. Nur wird die Kirche dann wieder mitten im Leben stehen. Einen Zeitplan für das Projekt gibt es noch nicht. Das Abkommen mit dem Besitzer - der Franziskanerkustodie vom Heiligen Land - steht.
Kochschule für junge Flüchtlinge
Was fehlt, ist die Finanzierung. Drei Millionen Dollar veranschlagt die Stiftung für die Renovierung und den Start; es werden noch Spender gesucht. Später, so hofft man, wird ein Teil des Familienhauses sich selbst tragen: Eine Kochschule soll jungen Flüchtlingen eine Ausbildung ermöglichen, ein dazugehöriges Restaurant auf dem Dach der früheren Schule die Familien versorgen und gleichzeitig zum Unterhalt beitragen.
Mehr als 700.000 Kinder aus Syrien und dem Irak haben nach Stiftungsangaben im Libanon Zuflucht gefunden. Viele von ihnen haben "Gewalt erfahren, sind entführt, missbraucht und verwundet worden", sagt Geschäftsleiterin Maria Vitagliano. Und viele haben ihre Familien verloren. Hier setzt das Projekt an: Zehn Familien sollen unentgeltlich das ehemalige Klostergelände beziehen. Im Gegenzug verpflichten sie sich, neben ihren eigenen Kindern bis zu sechs Kriegswaisen aufzunehmen. Damit, so Maria Vitagliano, soll eine solide Grundlage für ihre Kindheit und Zukunft geschaffen werden.
Straßenkinder als Teil der Gesellschaft
In Tyros wartet man auf den Startschuss. "Die Straßen von Tyros sind voll von Kindern, die kein Zuhause haben, und ihre Zahl steigt von Tag zu Tag. Der Staat bietet keine Hilfe an", sagt der Franziskaner. Die Architektenpläne liegen längst vor; sobald die Finanzierung steht, kann mit dem Umbau begonnen werden. Dann sollen aus den einstigen Schulgebäuden Vier-Zimmer-Wohnungen für die Gastfamilien entstehen. Gegessen, gelernt und gespielt werden soll in Gemeinschaftsräumen. Der ehemalige Konvent soll zum Gästehaus werden und später mögliche Freiwillige beherbergen.
Im Zentrum des Projekts stehe das Wohl der Waisenkinder, erklärt der Pater: "Künftige Gastfamilien werden sorgfältig geprüft und geschult. Sie müssen wirtschaftlich unabhängig sein. Flüchtlingsfamilien erhalten von uns Arbeitsmöglichkeiten im Haus und im Restaurant." Auch wie lange die Gasteltern im Familienhaus leben werden, richtet sich nach den Pflegekindern: "Aufgenommen werden sollen Kinder vom Kleinkindalter bis zur Volljährigkeit. Die Bedürfnisse in der Betreuung sind also sehr individuell."
Nicht nur bei Flüchtlingsfamilien ist das Interesse groß. Unter den ersten Bewerbern sind auch libanesische Christen. Die Motivation, sagt Pater Toufic Bou Merhi, sei mehr als christliche Nächstenliebe für Kriegswaisen. "Sie sagen: 'Wir wollen, dass unsere Kinder in einer gesunden Gesellschaft aufwachsen'; eine Gesellschaft, in der auch die Straßenkinder ein Teil sind. Indem wir sie von der Straße holen und ihnen die Chance auf eine Zukunft geben, helfen wir dem Land und damit unseren Kindern."