DOMRADIO.DE: Was ist denn das für ein Gefühl auf den letzten Metern vor dem Ruhestand?
Prälat Gerd Bachner (Kölner Dompropst): Es ist spannend, weil am Schluss noch alle möglichen Leute irgendein Anliegen haben, von dem sie möchten, dass es noch abgeschlossen wird. Insofern läuft jeder Tag anders ab. Nicht nur wegen Corona, sondern auch wegen dieser letzten Tage als Dompropst.
DOMRADIO.DE: Fühlt man sich denn hier nach fünf Jahren als Dompropst richtig zu Hause? Kennt man jede Ecke, jeden Winkel?
Bachner: Dann müsste man 300 Jahre alt sein, um jeden Winkel zu kennen. Neulich sagte mir der Dombaumeister, dass auch er nicht jeden Winkel kenne. Wir sagen ja als Kölsche: Der Dom wird nie fertig. Und wenn er fertig ist, geht die Welt unter.
Und genau so ist das jetzt mit dem eigenen Erleben. In der Priesterausbildung sind wir regelmäßig auch immer in den Dom gegangen, weil ich wollte, dass die Seminaristen auch den Dom als die Bischofskirche kennenlernen. Und dann haben wir die exzellentesten Führungen durch Fachleute bekommen. Da war ich immer dabei und da konnte ich lernen und lernen. Man ist mit dem Dom nie fertig. Und ich hoffe, der liebe Gott gibt mir noch Zeit, dass ich auch weiter im sogenannten Ruhestand lernen kann.
DOMRADIO.DE: Gibt es noch eine bewusste Erinnerung an die erste Begegnung mit dem Kölner Dom?
Bachner: Als Kind staunt man. Es heißt ja, Fakten behält man nicht so, man behält im Leben die Gefühle. Von der Erinnerung her war ich unheimlich begeistert und habe gestaunt über diese Dimensionen, die mir völlig fremd waren. Diese Begeisterung ist bis heute geblieben. Sie ist sogar gestiegen!
Ich bin jetzt seit 32 Jahren in Köln. Und in diesen fünf Jahren als Dompropst habe ich den Dom und die Stadt noch einmal ganz neu erlebt. Die Menschen in dieser Stadt habe ich ins Herz geschlossen und auch den Dom. Das ist für mich so ein zentraler Punkt: Im Sinne des Amtes kann ich sagen, hier im Dom habe ich eigentlich alles, was mir wichtig ist, gefunden.
DOMRADIO.DE: Gleich zu Beginn der Amtszeit sind Sie auf einen Domturm geklettert. Was war das denn für eine Aktion?
Bachner: Das habe ich nicht gemacht, weil ich es als Dompropst konnte! Sondern nur, weil es dienstlich nötig war. Es wurde damals eine 3D-Version von Kameraleuten erstellt. Und dann wurde ich gefragt, ob ich mitkommen möchte. Der Dombaumeister wollte mitgehen, für ihn sei es auch das erste Mal. Und dann war das für mich überhaupt keine Frage. Wenn ich so ein Angebot bekomme ...
DOMRADIO.DE: Ganz oben waren Sie da und das Leben endet wahrscheinlich dann irgendwann ganz unten. Denn ein Dompropst wird ja auch hier beerdigt ...
Bachner: Da würde ich natürlich widersprechen, wenn ich einem Chefredakteur widersprechen darf. Es endet für mich ganz oben beim lieben Gott und nicht ganz unten. Die Erde ist eigentlich nur eine Zwischenstation.
DOMRADIO.DE: Sie haben vor diesem Amt eine lange Zeit als Seelsorger gewirkt. Sie waren Regens im Priesterseminar und Leiter der Hauptabteilung Schule/Hochschule im Generalvikariat. Durch Ihr Leben zieht sich wie ein roter Faden die Begegnung mit jungen Menschen.
Bachner: Das hat mich jung gehalten. Man sagt ja, von den Menschen, mit denen man in den Feldern umgeht, in denen man arbeitet, wird man auch selbst geprägt. Und das ist ein Wechselspiel. Die jungen Menschen, die fordern heraus, da kann man authentisch sein oder nicht. Gewinnen oder verlieren. Ich diskutiere immer noch gerne mit jungen Menschen, weil die die Fragen des Lebens stellen und sich damit auseinandersetzen. Und weil wir es schuldig sind als Kirche, denen, die die Zukunft der Kirche sind, Antworten zu geben. Deswegen schlägt vom ersten Tag in Köln-Vingst, wo ich als Kaplan tätig war, bis heute mein Herz für die Jugend.
DOMRADIO.DE: Sie waren fast zwölf Jahre Regens im Priesterseminar. Was lag Ihnen da besonders am Herzen?
Bachner: Dass die Menschen ihren Weg finden! Es ging nie darum, dass möglichst viele Priester werden, sondern darum, dass jeder seine Berufung findet. Jeder hat seine Berufung von Gott erfahren: Ob ich jetzt Familienvater bin, ob ich im Kloster bin, ob ich als Priester arbeite, als Bruder in einem Orden, wo auch immer ich bin.
Ich habe immer gesagt, man muss zu beiden Seiten ja sagen: zu der besonderen Lebensform und zu der Berufung priesterlichen Dienstes. Mir war wichtig, die Menschen geistlich zu begleiten. Wir haben viele geistliche Tage in der Priesterausbildung gemacht, wir sind mit jedem Jahrgang nach Juist gefahren. Da bin ich mit jedem einzelnen Anwärter lange spazieren gegangen. Da haben die jungen Männer so viel erzählt, wie sie wollten. Und ich war für sie als Gesprächspartner da. Das waren alles ganz dichte Tage, die für die Studenten wichtig waren, aber vielleicht noch viel mehr, auch für mich persönlich. Damit bin ich beschenkt worden.
DOMRADIO.DE: Sie sind dann Hauptabteilungsleiter geworden für den großen Bereich Hochschule und Bildung. Was war da Ihre Aufgabe?
Bachner: Das eine ist die einzelne Begleitung, wie wir das gerade eben gesagt haben. Aber es geht nicht nur um die einzelne Begleitung. Es geht auch darum, dass wir Strukturen schaffen, in denen wir Berufungen wecken. Ich habe mich damals sehr stark in der Berufungspastoral engagiert, indem wir uns mit Studenten und Menschen, die vor dem Abitur stehen und sich die Frage des Priestertums stellen, getroffen haben. Da sollte ein Beitrag geleistet werden, jedem zu helfen, seinen Weg zu finden.
DOMRADIO.DE: Es gibt ja nach wie vor viele junge Menschen, die sich für den Glauben engagieren, die Zeugnis geben. Aber gerade beim Priesternachwuchs sieht es ganz mau aus. Was kann man da tun?
Bachner: Man muss einen Weg gehen, von dem man selbst überzeugt ist und damit ein Zeuge sein. Und auf anderen Seite diesen Weg gehen und Menschen mit Strukturen Möglichkeiten bereiten.
Kardinal Meisner hat immer wieder gesagt: "Wir haben weniger einen Priestermangel als einen Christenmangel." Das hatte Kardinal Höffner schon vorgerechnet. Wir haben eigentlich einen gleichen Bestand an Priestern analog zu den Gottesdienstbesuchern. Ohne Gottesdienstbezug kann ich nicht Priester werden. Der Gottesdienst ist die Mitte christlichen Lebens und die Mitte priesterlichen Lebens. Wie viele Gottesdienstbesucher haben wir und wie viele davon werden Priester? Diese Zahl ist seit 40, 50 Jahren konstant.
DOMRADIO.DE: Der Dom ist bei Gottesdiensten im Moment leer. Das ist eine schmerzliche Erfahrung jetzt am Dienstende, oder?
Bachner: Die schmerzt sehr. Natürlich geht auch das und ich bin froh, dass wir durch Digitalisierung neue Wege gefunden haben. Vor zehn Jahren hätten wir es viel, viel schlechter gehabt, weil wir diese Möglichkeiten der Kommunikation noch nicht hatten. Aber der Mensch hat eine Seele und er braucht nicht nur das Wort Gottes, er braucht auch die Hand des anderen Menschen, die ihn mal drückt und zur Seite steht.
Wir haben viele technische Möglichkeiten, aber es ist eben nicht dasselbe, ob ich in der Gemeinschaft vor Ort oder im Radio oder Internet dabei bin. Obwohl das DOMRADIO das ja sehr gut macht. Ich bin ja ein fleißiger Hörer des DOMRADIOS, auch weil man da viele Informationen bekommt, die man in der Gesellschaft nicht bekommt.
DOMRADIO.DE: Sie waren der erste, der einen eigenen Kommunikationsreferenten in der Dompropstei angestellt hat, der einen Markenbildungsprozess ins Leben gerufen hat, um den Dom noch einmal neu aufzustellen.
Bachner: Mir hat mal ein Künstler gesagt, man müsse die Sprache der Menschen und die Musik der Menschen hören und sprechen, um die Menschen zu erreichen. Wir müssen Zeugnis geben, aber auf der Wellenlänge, auf der die Menschen sich aufhalten. Wir müssen verankert sein im Leben der Menschen und zwar bei den verschiedenen Menschen auf verschiedenen Sendern.
DOMRADIO.DE: 2018 wurde der Dom zu einem Leuchtturm des Friedens, 100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges: Dona nobis pacem!
Bachner: Das war ein Zeichen, das ist wirklich nachhaltig in die ganze Welt hinausgegangen. Ich hatte vorher nicht gewagt, daran überhaupt zu denken. Aber es war ein großes Zeichen. 30.000 Menschen waren da auf dem Roncalli-Platz an fünf Abenden, 150.000 Menschen insgesamt. Da habe ich gespürt: Der Friede ist den Menschen ganz wichtig. Und der Dom als Ort des Friedens ist den Menschen ganz wichtig.
Ich möchte nie die Menschen überfahren. Ich möchte die Menschen im Dom mit Gott berühren. Das kann immer nur ein freiwilliger Akt sein. Ich muss den Menschen auch nachgehen, aber ich darf sie nicht bedrängen, ich muss sie einladen. Da ist mehr möglich, als wir oft denken.
Der Dom ist in ganz Deutschland das Wahrzeichen schlechthin und die Nummer Eins im Tourismus. Das sind Chancen. Diesen Menschen, die da kommen, müssen wir auch Antworten geben. Deshalb wandern wir auch die abendlichen Glaubenswege mit einem geistlichen Impuls. Wir bieten das einmal im Monat an seit drei Jahren. Das sind immer unterschiedliche Leute, die das machen: Frauen und Männer, Bischöfe, Priester, Jugendliche, Ältere, ganz querbeet. Da sagen viele: Wir dachten, wir kennen den Dom, aber den Dom in der Stille zu erfahren, bei Kerzenlicht am Abend, ist etwas Neues.
DOMRADIO.DE: Gibt es einen Höhepunkt Ihrer Jahre am Dom?
Bachner: Es sind all die Menschen, die in 632 Jahren den Dom gebaut haben, und diese großartigen Mitarbeiter heutzutage. Ich konnte nicht alles alleine leisten. Die Ideen kamen nicht nur von mir, die kamen von vielen Menschen in der Stadt, von vielen Menschen am Dom. Die Mitarbeiter, die haben das als Herzensanliegen mitgetragen. Wer hier als Restaurator wirkt, wer als Steinmetz arbeitet, für den ist das kein normaler Arbeitsort. Das prägt geradezu die Menschen, diesen Weg hier zu gehen an diesem Dom.
DOMRADIO.DE: Was bleibt von Gerd Bachner am Dom?
Bachner: Zum Beispiel die Domschweizerinnen, da schlägt mein Herz für die Frauen in der Kirche, der Kardinal sieht es ja genauso. Für die Domschweizerinnen habe ich gekämpft und auch das Kapital dafür gewonnen, diesen Weg zu gehen.
DOMRADIO.DE: Geht da noch mehr?
Bachner: Als Dompropst ist man ja nicht allein. Keiner von uns kann sagen, ob ein nächster Schritt mal ein Diakonat der Frau sein wird oder nicht. Man muss feinfühlig gucken: Was ist passend? Ich finde an Papst Franziskus ganz großartig, dass er ganz genau spürt, welche Dinge in der Weltkirche die Gefahr einer Spaltung in sich bergen. Die Einheit ist ihm ein ganz hohes Gut und die Einheit ist auch mir in der Kirche ein hohes Gut.
Aber das sind Themen, die wichtig sind. Das Thema Frau in der Kirche gibt ja Raum. Manche sagen, es sei zu wenig, andere sagen, es sei zu viel. Eine Frau ist genauso eine Bereicherung wie ein Mann. Ein Greis ist genauso eine Bereicherung wie ein Jugendlicher. Früher ging man mit 55 in Rente, heute wissen wir, dass auch alte Menschen eine Bereicherung für die Gesellschaft sind. Man muss immer das Ganze sehen. Man muss offen sein für die Menschen in ihren verschiedenen Situationen und Generationen.
Vor allem die Jugend ist mir in der Tat immer eine ganz wichtige Zielgruppe. Und ein weiteres Thema ist die Kultur. Da würde ich nennen: Dona nobis pacem, SilentMOD und andere Projekte. Auch die abendlichen Glaubenswege. Die lit.Cologne hätten wir dieses Jahr im Dom gehabt. Brecht und Bonhoeffer. Also nicht nur geistliche Lesungen, sondern wir müssen uns von unserem Glauben mit der Welt, mit der Dichtung, mit der Kultur, mit der Kunst auseinandersetzen, um Antworten für unser Leben zu finden. Wir müssen die Türen öffnen. Die Türen schließt, wer Angst hat. Wer die Türen öffnet, der sagt: Das ist ein Fundament, auf diesem Fundament gehen wir den Weg mit Gott. Ich wünsche mir, dass die Kirche weiß, wo sie steht und keinen Moden hinterherläuft, sich aber den Fragen der Menschen, die sie heute haben - und das sind andere Fragen als gestern -, öffnet.
DOMRADIO.DE: Und persönlich?
Bachner: Ich habe zu den Menschen im Dom und zu den Menschen in der Stadt viele Kontakte geknüpft, das ist ein Geschenk. Das ist nicht selbstverständlich. Ich bin dankbar, dass ich mit 70 Jahren noch einmal ein solches Geschenk bekommen durfte.
Ich hätte das nie für möglich gehalten. Ich habe gedacht mit 70, das war es jetzt. Dass mir dann diese Möglichkeit gegeben wurde, da bin ich dankbar. Es haben sicherlich auch Menschen an mir gelitten. Wer kann denn von sich sagen, dass er für alle Menschen der Richtige ist? Ja, das ist so, und das tut mir leid.
DOMRADIO.DE: Haben Sie noch ein persönliches Anliegen?
Bachner: Alle Heiligen haben ihr einzelnes Fest. Petrus und Paulus aber haben ein Fest zusammen, weil sie Apostelfürsten sind. Der Petrus steht für die Wurzeln: "Vergesst die Wurzeln nicht. Vergiss nicht, woraus du lebst, was dich trägt, was für dein Leben wichtig ist, wer mit dir den Weg geht, wer an deiner Seite steht. " Dafür steht ein Petrus: die Wurzeln nicht aus dem Blick zu verlieren.
Und Paulus? Der zeigt: Wir müssen immer wieder neue Wege gehen, nicht um des Neuen Willen, sondern um der Menschen Willen mit ihren je neuen Fragen von der Zeitsituation her, aber auch von der Lebenssituation her. Der junge Mensch fragt anders als der ältere Mensch, der Familienvater, die Mutter fragt anders als das Kind. Und dass wird das im Blick haben, neue Wege zu gehen, die auf den Wurzeln gegründet sind, das ist mein priesterliches Anliegen.
Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen, Chefredakteur von DOMRADIO.DE.