Überlebende des Chapecoense-Absturzes starten zweites Leben

Gottes sechs Wunder

Ende November starben 71 Menschen beim Flugzeugabsturz des brasilianischen Erstligisten Chapecoense. Sechs Personen überlebten, darunter drei Spieler und ein Radioreporter. Nun starten diese in ein neues Leben.

Autor/in:
Thomas Milz
Jackson Follmann, Torwart der brasiliansischen Fußballmannschaft, mit dem Pokal der Copa Sudamericana im Arm. / © Thomas Milz (KNA)
Jackson Follmann, Torwart der brasiliansischen Fußballmannschaft, mit dem Pokal der Copa Sudamericana im Arm. / © Thomas Milz ( KNA )

Es sei so dunkel um ihn herum gewesen, erinnert sich Torwart Jackson Follmann (24) an jene Novembernacht in den Bergen über der kolumbianischen Stadt Medellin. "Ich hörte meine Freunde um Hilfe rufen, wollte ihnen helfen, aber ich konnte mich nicht bewegen." Er habe Angst gehabt zu sterben. "Ich dachte nur: Gott, gib mir Kraft, und helfe meinen Freunden." Dann wurde er ohnmächtig.

Als er drei Tage später im Krankenhaus aufwachte, war er umringt von seiner Familie. "Bei einem Flugzeugabsturz zu überleben, ist praktisch unmöglich. Unter den Überlebenden zu sein, ist ein Wunder Gottes", sagte Vater Paulo Follmann. Dem Torwart wurde der rechte Unterschenkel amputiert; zudem mussten Knochen am linken Fuß ersetzt werden. Fußballspielen werde er wohl nicht mehr, so der Torwart. Aber am Leben zu sein sei viel wichtiger.

Pokal stellvertretend übergeben

Rund zwei Monate später kam Follmann als letzter der sechs Überlebenden aus dem Krankenhaus. Im heimischen Stadion, der Arena Conda in Chapeco, wurde ihm Ende Januar vor dem Freundschaftsspiel gegen Meister Palmeiras stellvertretend für die 19 gestorbenen Teamkollegen der Pokal der Copa Sulamericana übergeben. Angehörige der Opfer und viele der 20.000 Menschen im Stadion weinten hemmungslos. Noch sind die Wunden nicht verheilt.

Das Team war in der Nacht zum 29. November auf dem Weg zum Finalhinspiel der Copa Sulamericana gegen Atletico Nacional gewesen, als die Maschine aufgrund von Treibstoffmangel in den Bergen über Medellin abstürzte. Zwei bolivianische Besatzungsmitglieder überlebten, zudem drei Spieler von Chapecoense sowie der Radioreporter Rafael Henzel (43). Atletico bestand darauf, den mit der Europa League vergleichbaren Titel an Chapeco abzutreten. Es ist der größte Erfolg des Provinzklubs.

Der Kampf danach

Dass Gott gleichzeitig sechs Wunder vollbracht habe, sei das Einzigartige dieses Unfalls gewesen, sagt Radiomann Henzel. Wie alle anderen Überlebenden saß er im hinteren Teil des Flugzeugs, das beim Aufprall auseinanderbrach. Die Kollegen links und rechts neben ihm starben; er überlebte als einziger der 21 Journalisten an Bord. Sieben Rippen brach er sich, im Krankenhaus erlitt er zudem eine Lungenentzündung.

Zuerst sei er in Depressionen verfallen. "Dann verstand ich, dass ich selbst derjenige sein musste, der das größte Interesse hatte, wieder aufzustehen." Der elfjährige Sohn brauche ihn, genau wie ganz Chapeco. Henzel begann zu kämpfen. Am 9. Januar, nur 40 Tage nach dem Absturz, ging er wieder auf Sendung. Drei Stunden lang spricht er seitdem jeden Morgen über die Sorgen der Menschen in der 210.000-Einwohner-Stadt.

"Nichts ist wichtiger als zu leben"

Er habe kein Trauma; ihn quälten keine Albträume, sagt er. "Ich will den Leuten zeigen, dass nichts wichtiger ist als zu leben." Wenn er es geschafft habe, so schnell wieder zum Alltag zurückzukehren, dann schafften es alle anderen in der geschockten Stadt auch. Beim ersten offiziellen Spiel des in aller Eile neuformierten Teams gegen Meister Palmeiras saß Henzel wieder in seiner Sprecherkabine oben auf der Tribüne und kommentierte live.

Zu dem Spiel kamen auch die beiden anderen überlebenden Spieler, Rechtsaußen Alan Ruschel (27) und Verteidiger Neto (31). Ruschel glaubt, bereits im Mai wieder ins Training einsteigen zu können.

"Gott hört nicht auf, mich zu segnen", schrieb er vor wenigen Tagen unter ein Bild, das ihn beim Lauftraining zeigt.

Schwieriger Neustart

Verteidiger Neto ist noch auf Krücken angewiesen. Arme und Beine sind von Narben überzogen – und wohl auch seine Seele. Wie ein Geist huscht der bis auf die Knochen abgemagerte Spieler jeden Nachmittag auf dem Weg zur Physiotherapie durch die Klubräume. Er habe in der Nacht vor dem Abflug geträumt, dass das Flugzeug in einen stockdunklen Sumpf stürze, hatte er im Krankenhaus dem Teamarzt erzählt.

Der Traum sei eine Botschaft Gottes gewesen, glaubt der zweifache Vater. Noch in diesem Jahr will er zurück auf den Platz, will seinem Team beim schwierigen Neustart helfen. Torwart Jackson Follmann träumt derweil von einer Karriere als Paralympics-Sportler. Brasiliens paralympisches Volleyballteam hat ihn bereits zum Probetraining eingeladen. Wenn er erst mal die Beinprothese habe, so Follmann, stünden ihm alle Türen im Sport offen.


Jubelnde Fans beim ersten offiziellen Spiel der Fußballmannschaft AF Chapecoense nach dem Flugzeugabsturz. / © Thomas Milz (KNA)
Jubelnde Fans beim ersten offiziellen Spiel der Fußballmannschaft AF Chapecoense nach dem Flugzeugabsturz. / © Thomas Milz ( KNA )
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KNA