Ukraine benötigt Prothesen für Kriegsversehrte

"In unseren Anstrengungen nicht nachlassen"

Bombenangriffe, Minenexplosionen und Panzergeschosse treffen in der Ukraine vor allem Soldaten, aber auch Zivilisten, darunter oft Kinder. Sascha Lehner aus Brühl hilft gerade beim Aufbau eines Prothesenzentrums in Dnipropetrowsk.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Viele kriegsversehrte Soldaten warten zurzeit auf eine Beinprothese. (Unbroken)
Viele kriegsversehrte Soldaten warten zurzeit auf eine Beinprothese. / ( Unbroken )

Vitali hat seine beiden Beine gleich beim ersten Fronteinsatz verloren. Kurz nach Kriegsausbruch. Der Mittdreißiger wurde schwer getroffen, als seine Einheit in einen Hinterhalt geraten war und nicht genug Munition gegen die russische Artillerie hatte. Der dreifache Familienvater musste mit ansehen, wie einige seiner Kameraden bei diesem Angriff ums Leben kamen. 

Schätzungsweise benötigen 100.000 Menschen in der Ukraine eine Prothese - wie diese Soldaten im "Unbroken". (Unbroken)
Schätzungsweise benötigen 100.000 Menschen in der Ukraine eine Prothese - wie diese Soldaten im "Unbroken". / ( Unbroken )

Wie durch ein Wunder hat er selbst überlebt. Seine Leute konnten ihn notfallmäßig versorgen, aus dem Kampfgebiet evakuieren. Fast ein Jahr war er an den Rollstuhl gefesselt. Inzwischen steht er wieder aufrecht und übt auf zwei neuen Prothesen das Gehen. Aber der Weg bis dahin war lang und mühsam.

Oleksandr war gerade 25 geworden, als er eingezogen wurde, mit seinem Pick-up von der Straße abkam und direkt in eine Panzerabwehrmine fuhr. Die Explosion zertrümmerte seine Füße. Danach wurde der junge Soldat viermal operiert. Die Füße konnten nicht gerettet werden, wohl aber die Unterschenkel, was die Anpassung von Prothesen sehr erleichtert. 

Je höher an den Beinen eine Amputation, desto schwieriger ist es, eine Prothese anzufertigen und sich mit ihr fortzubewegen. Ginge es nach ihm, würde Oleksandr an die Front zurückkehren – trotz des erlittenen Traumas. Wie viele andere Kameraden auch kann er sich ein ziviles Leben kaum noch vorstellen. Außerdem ist er überzeugter Patriot. 

Er vermisst die klare Struktur seines Militärdienstes. Vor allem aber wehrt er sich dagegen, eines Tages russisch zu sein. Geradezu verbissen trainiert er mit seinem Physiotherapeuten für jeden Zentimeter Fortschritt.

Hunderttausend haben Beine oder Arme verloren

Wie viele Menschen bisher ihre Beine, Füße, aber auch Hände und Arme in dem russischen Angriffskrieg verloren haben, ist nicht in Zahlen zu belegen. Und die, die kursieren, sind nicht unabhängig zu überprüfen. Schätzungsweise aber sind es mehr als 100.000.

Veteranenfeier in Dnipro. Aliada Mansurova (vorne links) baut das vom Land NRW geförderte Veteranenzentrum auf. (Unbroken)
Veteranenfeier in Dnipro. Aliada Mansurova (vorne links) baut das vom Land NRW geförderte Veteranenzentrum auf. / ( Unbroken )

Nicht alles sind Kampfverletzungen, auch eingestürzte oder zerbombte Wohnhäuser und die starke Verminung der umkämpften Gebiete sorgen für Verletzungen, bei denen nicht nur viele Soldaten ihre Gliedmaßen verlieren. Panzerabwehrminen, die Fahrzeuge zerstören sollen, werden zusammen mit Anti-Personen-Minen verlegt. 

Letztere sollen die Soldaten nicht töten, sondern verstümmeln, um möglichst viele Sanitäter und andere Militärangehörige in das Minenfeld zu locken, die den Verwundeten zur Hilfe eilen. Ein zynisches System, das zivile Opfer billigend in Kauf nimmt und dann von bedauerlichen Kollateralschäden spricht. Der Krieg in der Ukraine ist grausam. 

Er wird eine ganze Generation an Versehrten ohne Arme und Beine zurücklassen. Mit jedem Kriegstag steigt die Zahl von Menschen mit Amputationen.

Die meisten ukrainischen Soldaten, die an Armen und Beinen verwundet werden, überleben dank des Einsatzes hämostatischer Stauschläuche. Dabei handelt es sich um ein Abbindesystem, durch das der Blutfluss in den Venen und Arterien gestaut oder vollständig unterbrochen werden kann.

Diese Aderpressen retten zwar das Leben der Soldaten, erhöhen aber auch die Zahl der Amputationen. Bei schweren Kämpfen unter feindlichem Beschuss ist es manchmal unmöglich, die Verwundeten zu transportieren oder sie durchgehend stundenlang medizinisch zu versorgen. 

Das Gewebe eines Arms oder Beins, das mit einer Aderpresse abgebunden und somit von der Blutzirkulation abgeschnitten ist, wird während dieser Zeit nekrotisch. Nach sechs Stunden ist dieser Prozess nahezu irreversibel.

Aufbau eines großen Hilfsnetzwerkes

Einer der vielen ehrenamtlichen Helfer, den all diese Schreckensnachrichten von Kriegsbeginn an nicht unbeteiligt gelassen haben, ist Sascha Lehner. Eigentlich ist der 52-Jährige selbständiger IT-Unternehmer in Brühl mit guten Kontakten in die Ukraine, zumal ihn mit diesem Land schon lange eine berufliche Zusammenarbeit verbindet. Er berichtet den Projektpartnern von Soldaten wie Oleksandr und Vitali.

Sascha Lehner, der aus Brühl bei Köln Unterstützung für die Ukraine organisiert. / © Beatrice Tomasetti (privat)
Sascha Lehner, der aus Brühl bei Köln Unterstützung für die Ukraine organisiert. / © Beatrice Tomasetti ( privat )

Doch auch aus persönlicher Betroffenheit – er ist mit einer Ukrainerin verheiratet – gehörte er schnell zu den Hauptinitiatoren, die am Ort ein großes Hilfsnetzwerk für die aus der Ukraine Geflüchteten aufgebaut haben. "Lviv ist für mich wie eine zweite Heimat.

Der Einmarsch der Russen am 24. Februar 2022 war eine Zäsur, die alles verändert hat", stellt er fest. Die große Flüchtlingswelle – auch innerhalb des Landes von Ost nach West – und die vielen Todesopfer gleich am Anfang seien Auslöser für sein Engagement gewesen. 

In der eigenen Familie angekommen aber sei der Krieg schon sehr viel früher: als die Russen 2014 die Krim besetzt hätten. Für Lehner war es keine Frage, umgehend helfen zu wollen. Innerhalb von nur 24 Stunden hätten sie in Brühl eine Erstaufnahme für die Ankommenden aus den Kriegsgebieten organisiert.

Immer wieder habe es dann in enger Abstimmung mit Bürgermeister Dieter Freytag Veranstaltungen unter der Überschrift "Brühl stands with Ukraine" gegeben, berichtet der Computerexperte. Inzwischen hat er als ehrenamtlich Beauftragter der Stadt Brühl fünf Reisen nach Lviv unternommen. 

"Am Anfang, um Projekte zu prüfen, die wir als Stadt, aber auch als Gemeinde unterstützen können – schließlich gehört die Kirche zu den wichtigsten Verbündeten. Und später, um einzelne Initiativen weiterzuentwickeln." Viele lose Stränge habe er zunächst gebündelt. 

Sascha Lehner (links) besucht regelmäßig das Reha-Zentrum Unbroken in Lviv. (Unbroken)
Sascha Lehner (links) besucht regelmäßig das Reha-Zentrum Unbroken in Lviv. / ( Unbroken )

Dann stand zunehmend im Fokus, vor allem das Durchhaltevermögen der Ukrainer zu stärken, ihnen durch Solidaritätsaktionen angesichts zunehmender Ermüdungserscheinungen und auch militärischer Rückschläge immer wieder Kraft und Mut zuzusprechen, resümiert Lehner. 

Sascha Lehner

"Aus unserer Sicht mag es um Grenzverschiebungen gehen, für die Ukraine geht es um alles: den Verlust ihres Territoriums, ihrer Kultur und damit ihrer Identität."

"Wir dürfen mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen", appelliert er eindringlich, "sonst wird es für die Ukraine sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich zu verteidigen." Es sei naiv zu glauben, dass ein Ende von Waffenlieferungen zu Verhandlungen führen werde. Nicht mit Putin. 

"Die Ukrainer verteidigen sich mit allem, was sie haben. Denn sie führen einen Überlebenskampf. Aus unserer Sicht mag es um Grenzverschiebungen gehen, für die Ukraine geht es um alles: den Verlust ihres Territoriums, ihrer Kultur und damit ihrer Identität." 

Längst ist Lehner wichtiger Ansprechpartner in einem verantwortlichen Team der NRW-Landesregierung, die sich bei Rehabilitations- und Wiederaufbaumaßnahmen in der Ukraine stark macht und seine exzellenten Landeskenntnisse nutzt. Vor allem im Westen des Landes entstehen immer mehr Einrichtungen, die sich um die Behandlung der Kriegsversehrten kümmern.

Allen voran hat die Stadt Lviv viele Binnenflüchtlinge aufgenommen, darunter auch tausende Verwundete, für deren Therapie das von Deutschland mitfinanzierte Nationale Rehabilitationszentrum "Unbroken", ein städtisch betriebenes Leuchtturmprojekt für Orthopädietechnik mit sieben Stockwerken, entstanden ist, in dem jährlich bis zu 10.000 Patienten behandelt werden können und bei dessen Realisierung Lehner von Anfang an eingebunden war. 

In diesem neuen Zentrum – Unbroken bedeutet auf Deutsch "Ungebrochen" – werden vor allem vom Krieg traumatisierte Soldaten mit ihren physischen und psychischen Wunden behandelt. Es ist Teil der Lviv First Medical Union, eines Zusammenschlusses, zu dem neben diesem Rehabilitationszentrum auch Krankenhäuser und ein Mütterzentrum gehören. 

Größte Prothesenwerkstatt gibt es in Lviv

Bereits im ersten Kriegsjahr wurde in der von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) mitfinanzierten Einrichtung zudem ein mobiler Werkstatt-Container in Betrieb genommen, in dem dringend benötigte Prothesen für Kriegsverletzte hergestellt und Orthopädiefachkräfte aus- und weitergebildet werden – auch im Austausch mit Deutschland. 

"Unbroken" verfügt über die größte Prothesenwerkstatt ihrer Art in der Ukraine und Lehner hält intensiven Kontakt zu dem hier immer wieder vorübergehend tätigen Unfallchirurgen Dr. Thorsten Tjardes aus Köln-Merheim sowie dem Prothesenbauer Thomas Kipping aus dem Westerwald – auch um sich als Koordinator darum zu kümmern, was am dringendsten an Hilfe aus Deutschland gebraucht wird. 

Das Besondere an diesem Reha-Zentrum: Psychologen, Ärztinnen, Orthopäden und Physiotherapeutinnen arbeiten Hand in Hand und richten Menschen im eigentlichen Sinne des Wortes wieder auf. 

In der neuen Werkstatt können rund 1.200 Prothesen und Orthesen pro Jahr gebaut werden. Gleichzeitig durchlaufen 60 Auszubildende verschiedene Trainingsmodule zur Prothesen- und Orthesen-Technik. 

Die GIZ unterstützt im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den Bau und die Ausstattung der Werkstatt, die erst vor wenigen Monaten eröffnet wurde. 

Zu ihr gehört auch ein Ausbildungszentrum für Fachkräfte zur Produktion und Anpassung von Prothesen und Orthesen. Trotzdem ist dem enormen Bedarf an Geh- und Bewegungshilfen kaum nachzukommen. Aber auch die medizinischen Kräfte stehen permanent unter Druck, zumal kein Land auf Zehntausende von Amputierten vorbereitet ist. 

Einer Amputation folgt oft eine Reamputation

So besteht die Aufgabe der Spezialisten zum Beispiel darin, einen Beinstumpf so vorzubereiten, dass sich darauf möglichst gut eine Prothese anpassen lässt. Fast immer muss zuvor eine Reamputation, eine rekonstruktive Operation zur Beseitigung von Stumpfmissbildungen, durchgeführt werden. 

Aber in einer Kampfsituation sind die ukrainischen Militärchirurgen eher selten in der Lage, den Stumpf für weitere Prothesen bei komplexen Amputationen richtig zu formen. Von daher weisen unter harten Kriegsbedingungen vorgenommene Amputationen oftmals nicht die besten medizinischen Ergebnisse auf. 

Es gibt viele – zu viele – Patienten, die auf der Warteliste für eine Prothese stehen. Sie sind mit dem Verlust ihrer Gliedmaßen nicht nur zeitlebens gezeichnet, sondern – bis sie mit dem nötigen Hilfsinstrumentarium ausgestattet werden können – auch enorm in ihrer Mobilität eingeschränkt, weil weder Mehrfamilienhäuser noch ukrainische Städte barrierefrei sind. 

Modernste Technologien ermöglichen zwar mittlerweile die Herstellung von durchaus hochentwickelten alltagstauglichen Prothesen, aber die Industrie ist nicht in der Lage, Tausende von individuellen Prothesen für Ukrainer herzustellen, die arbeiten oder in die Armee zurückkehren wollen. 

Aufbau von Prothesenproduktion unverzichtbar

Berechnet man den Bedarf, müssten Ärzte eigentlich jeden Monat mehr als tausend Modelle für Amputierte installieren oder austauschen. Von daher sind der Aufbau einer lokalen Prothesenproduktion in der Ukraine, die Übernahme von Technologien, die Ausbildung von Ingenieuren und Ärzten sowie die Errichtung eines umfassenden Netzes von Rehabilitationszentren auf Dauer für die Zukunft der Ukraine unverzichtbar. 

Insgesamt hat die GIZ bisher in der Ukraine weit über 200 Gesundheitseinrichtungen gebaut oder die Aufnahmekapazität durch Anbauten und Materialbeschaffung verbessert: in den Gebieten Tschernihiw, Sumy, Saporischschja, Mykolaiw und Dnipro. Doch das reicht nicht.

Dr. Thorsten Tjardes aus Merheim im Gespräch mit Nazar Bahniuk, dem Leiter der Prothesenwerkstatt im "Unbroken".   (Unbroken)
Dr. Thorsten Tjardes aus Merheim im Gespräch mit Nazar Bahniuk, dem Leiter der Prothesenwerkstatt im "Unbroken". / ( Unbroken )

Ein zusätzliches Prothesenzentrum entsteht gerade in der Oblast Dnipropetrowsk, die an russisch besetztes Gebiet angrenzt. Wieder ist federführend die GIZ mit im Boot und Sascha Lehner in beratender und vermittelnder Funktion. 

Währenddessen wird Staatskanzleichef und Europaminister Nathanael Liminski nicht müde zu erklären, dass die Landesregierung versuche, mit Hilfen aller Art die verheerenden Folgen der russischen Angriffe in Dnipropetrowsk zu lindern – im engen Schulterschluss mit der engagierten Zivilgesellschaft in Nordrhein-Westfalen. 

Es gehe darum, diese Partnerschaft mit allen erdenklichen Maßnahmen zu stärken und die europäische Perspektive der Ukraine zu unterstützen. 

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen

"Wir fokussieren unsere Hilfe auf Dnipropetrowsk, damit wir sie dauerhaft leisten und in diesem Rahmen direkte Kooperationen und persönliche Kontakte wachsen können." NRW wolle durch die Stärkung der Reha-Strukturen in Dnipropetrowsk dazu beitragen, den dort kriegsversehrten Menschen wieder eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. 

NRW-Minister Nathanael Liminski / © Beatrice Tomasetti (DR)
NRW-Minister Nathanael Liminski / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Liminski wörtlich: "Der Wiederaufbau ist eine gewaltige Herausforderung, die die Ukraine nicht alleine stemmen kann. Deshalb werden wir als Land unsere Partnerregion Dnipropetrowsk dabei unterstützen. Schulen müssen wiederaufgebaut, Reha-Kliniken neu errichtet, Geflüchtete reintegriert und das Wirtschaftsleben wiederbelebt werden."

Sascha Lehner

"Nicht immer geht es darum, verlorene Gliedmaßen zu ersetzen. Auch die Traumabewältigung steht bei dem, was die Menschen brauchen, ganz oben an (…)"

"Der Beitrag von NRW ist ganz entscheidend", findet Sascha Lehner. "Denn täglich gibt es neue Opfer. Und nicht immer geht es darum, verlorene Gliedmaßen zu ersetzen. Auch die Traumabewältigung steht bei dem, was die Menschen brauchen, ganz oben an – nämlich eine ganzheitliche Versorgung, um diesen Krieg auch nur annähernd verarbeiten zu können – wenn überhaupt." 

Nach der militärischen Unterstützung sei die mentale Gesundheit gleich das wichtigste Thema, meint er. Und auch, wie man auf Zukunft hin mit den vielen Veteranen dieses Krieges umgehen wolle. 

Die Prothesenproduktion, daran hat der Brühler jedenfalls keinen Zweifel, wird sich auf die nächsten Jahre hin in der Ukraine zu einem eigenen prosperierenden Wirtschaftszweig entwickeln. So bitter das ist. Denn die Nachfrage auf dem zurzeit weltgrößten Markt für Prothesen wird auch nach Ende der Kämpfe noch anhalten. 

Schließlich werden die Einwohner des am stärksten verminten Landes der Erde noch lange Zeit deren Nachwehen zu spüren bekommen. 

Jeder Spaziergang, jede Feldarbeit, jede Freizeitaktivität wird von nun an von der Angst begleitet sein, dass jeden Moment unter den eigenen Füßen eine Mine explodieren kann. So oder so – für die Ukraine ist ein Ende des Krieges noch lange nicht in Sicht.

Quelle:
DR