domradio.de: Welche Erinnerungen haben Sie an den 26. April 1986?
Stanislav Szyrokoradiuk (Bischof von Charkiw-Saporischschja in der Ukraine): Ich war damals als Priester in einer Pfarrei in Polonne, über 300 Kilometer von Tschernobyl entfernt. Woran ich mich besonders erinnere ist, dass alles geheim gehalten wurde. Es war schrecklich! Niemand sagte uns die Wahrheit. Was wirklich geschehen war, erfuhren wir aus dem Radio, aus europäischen Programmen.
Dann setzte die so genannte Demobilisierung ein: Tausende Menschen wurden nach Tschernobyl geschickt, um dort bei den Bergungs- und Räumarbeiten zu helfen. Viele dieser Liquidatoren sind danach infolge der hohen Strahlenbelastung gestorben.
Heute stehen die Dörfer rund um Tschernobyl - Prypjat zum Beispiel direkt neben dem Reaktor - leer. Und wenn wir uns heute an den Unfall erinnern, dann erinnern wir uns an zwei Katastrophen: erstens die nukleare Katastrophe und zweitens die Lügen, die von dem sowjetischen System verbreitet wurden. Bis heute wissen wir nicht, wie viele Menschen damals tatsächlich gestorben sind.
domradio.de: Gibt es mittlerweile in der Ukraine so etwas wie Aufarbeitung oder wird das Problem weiter klein geredet?
Stanislav Szyrokoradiuk: Heute haben wir andere Probleme: Der Krieg im Osten der Ukraine, wo tagtäglich viele Menschen sterben. Deswegen ist Tschernobyl heute bei uns kein großes Thema.
Es gibt im ganzen Land Gottesdienste, in denen der Opfer gedacht wird und es gibt offizielle Reden, aber tatsächlich wird das Gedenken überlagert vom Krieg und wir haben Angst, dass das weiter geht. Ich bin Bischof von Charkiw-Saporischschja, das ist direkt in der Konfliktregion. Zu meiner Diözese gehören Donezk und Lugansk und hier zeichnet sich schon die nächste Katastrophe ab.
Da sieht es auch nicht anders aus als in der Todeszone rund um Tschernobyl: Auch hier in der Kriegsregion gibt es so viele zerstörte und verlassene Städte, Waisenkinder und Flüchtlinge. Über eine Million Ukrainer sind auf der Flucht. Das ist eine neue Katastrophe!
domradio.de: Nach Tschernobyl war die internationale Solidarität sehr groß. Ist das denn jetzt genauso?
Stanislav Szyrokoradiuk: Zu Beginn des Krieges waren das Interesse und die Anteilnahme im Westen sehr groß aber jetzt, wo Europa seine eigenen Probleme mit den Flüchtlingen und dem Krieg in Syrien hat ist die Ukraine kein großes Thema mehr. Wir fühlen uns allein gelassen mit dem Konflikt in der Ostukraine.
domradio.de: Tschernobyl ist jetzt 30 Jahre her. Inwiefern leiden die Menschen heute noch unter den Folgen?
Stanislav Szyrokoradiuk: Sehr. Vor allem die Kinder. Viele werden mit Missbildungen geboren. Es gibt so viele Fälle von Krebs, Leukämie und anderen Erkrankungen. Ich bin auch Direktor der "Caritas spes", die zur römisch-katholischen Kirche in der Ukraine gehört. Wir haben ein Zentrum in den Karpaten errichtet, wo die Kinder ihre Ferien verbringen können: Frische Luft und Erholung.
In der Region um Tschernobyl war ich insgesamt schon fünf Mal. Dort gibt es beispielsweise die Stadt Iwankow, nicht weit von Prypjat und dort leben noch immer über 3000 Menschen. Es gibt ein großes Waisenhaus mit über hundert Kindern, obwohl die Strahlenbelastung dort genauso hoch ist wie in Tschernobyl selbst. Es gibt so viele kranke Kinder dort. Ich denke, die Kinder müssen da weg geholt werden. Für die alten Menschen ist es nicht mehr so gefährlich, aber für die Kinder, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben, ist es schlimm.
domradio.de: Hunderttausende Männer und Frauen mussten damals unmittelbar nach der Katastrophe bei der Evakuierung und den Aufräumarbeiten helfen, die so genannten Liquidatoren. Tage- zum Teil wochenlang waren sie der Strahlung ausgesetzt – und leiden, wenn Sie überlebt haben, heute an massiven gesundheitlichen Folgen. Wurden sie in irgendeiner Form unterstützt?
Stanislav Szyrokoradiuk: Nein, leider gibt es keine Unterstützung mehr. Früher gab es einen so genannten Status für Strahlenopfer, der ihnen staatliche Zahlungen zusicherte. Aber das wurde abgeschafft, die Menschen wurden mit ihren Problemen alleine gelassen.
domradio.de: Tschernobyl ist mittlerweile für touristische Touren geöffnet. Was halten Sie davon?
Stanislav Szyrokoradiuk: Das ist reine Geschäftemacherei. Die Menschen fotografieren die Geisterstädte, werden mit dem Bus herum gefahren, gehen Mittagessen in Tschernobyl. Ich nenne das "blutigen Tourismus" und finde, das sollte es nicht geben.
domradio.de: Sie haben gesagt, dass es viele Gottesdienste zum Jahrestag des Unglücks geben wird. Was ist Ihre Botschaft an die Menschen?
Stanislav Szyrokoradiuk: Betet für uns! – Das ist es, was ich mir wünsche. Und ich fordere die Wahrheit: Wir müssen wissen, was damals genau passiert ist, wie viele starben, wie viele geschädigt wurden, welche gesundheitlichen Folgen es gab. Wahrheit und Gebete, das ist es, was wir brauchen!
Das Interview führte Ina Rottscheidt