Ukrainischer Caritas-Bischof Szyrokoradiuk im Interview

"Tschernobyl war viel schrecklicher als Fukushima"

Am 26. April jährt sich die atomare Katastrophe von Tschernobyl zum 25. Mal - und angesichts der traurigen Ereignisse von Fukushima ist sie so aktuell wie eh und je. Der Leiter der Caritas Spes in der Ukraine, Weihbischof Stanislaw Szyrokoradiuk (54) von Kiew-Schytomyr, sprach über die Situation heute vor Ort, die Hilfe für unter der Strahlung leidenden Kinder und die Verantwortung für die Zukunft.

Autor/in:
Katharina Ebel
Weihbischof Stanislaw Szyrokoradiuk  (KNA)
Weihbischof Stanislaw Szyrokoradiuk / ( KNA )

KNA: Herr Weihbischof, was hat sich seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in der Ukraine und in Weißrussland geändert?

Szyrokoradiuk: Wenig. Viele Probleme sind ungelöst. Mit dem Unterschied, dass das Ausmaß der Katastrophe heute offen zutage tritt. Vor 25 Jahren wurde alles geheimgehalten. Niemand wusste, welche Gebiete von der radioaktiven Strahlung tatsächlich betroffen waren und wie stark. Das ist mittlerweile anders. Die sogenannte Todeszone im Umkreis von 30 Kilometern um den Reaktor bleibt unbewohnbar. In manchen Dörfern, die 50 Kilometer entfernt liegen, die zum Teil noch stärker verstrahlt sind, leben aber immer noch Menschen. Oft haben sie keine andere Möglichkeit als zu bleiben.



KNA: Worunter leiden die Menschen am meisten?

Szyrokoradiuk: Die Menschen in diesen Dörfern haben zwei akute Probleme. Aufgrund der Strahlung verbietet sich eigentlich, Landwirtschaft zu treiben. Daraus folgt Armut.



KNA: Was tut die Kirche?

Szyrokoradiuk: Jedes Jahr ermöglichen wir mit Unterstützung des deutschen Hilfswerks Renovabis 3.000 Kindern aus den besonders verstrahlten Gebieten um Tschernobyl Erholung in einem Ferienlager nahe den Karpaten. Die Kinder bekommen gesunde Ernährung und frische Luft. Nach drei Wochen müssen sie dann leider wieder in ihre Heimat zurück. Das ist alles, was wir tun können.



KNA: Werden noch immer Kinder mit Behinderungen geboren?

Szyrokoradiuk: Ja. Behinderungen und Leukämie sind noch immer ein Problem. In Kiew gibt es ein Kinderkrankenhaus mit mehr als 1.000 Betten. Die sind immer belegt. Nicht nur wegen der Folgen von Tschernobyl. In der Ostukraine gibt es auch viele Fabriken, die gesundheitsschädigend sind.



KNA: Würden sich die Ukrainer heute gegen den Bau neuer Atomkraftwerke auflehnen?

Szyrokoradiuk: Ich denke schon. Wenn man sie fragen würde. Doch obwohl bekannt ist, dass es in unserem Atomkraftwerk Militzkij Störfälle gegeben hat, wird dort ausgebaut. Die Leute protestieren, aber es ändert nichts. Das ist ein weltweites Problem. Wir benötigen immer mehr Energie, und die Interessen von Staaten und Konzernen zählen mehr als die der Bevölkerung.



KNA: Gibt es in Ihrem Land auch alternative Formen der Energiegewinnung?

Szyrokoradiuk: Nicht wirklich. Atomenergie ist erst mal billig. Allerdings bedenkt bis heute niemand den wirklichen Preis, den wir zahlen. Wir nutzen diese Energie auf Kosten unserer Gesundheit und Umwelt. An Japan sehen wir aktuell, wie unbeherrschbar diese Energieform ist.



KNA: Wie hat man in der Ukraine auf Fukushima reagiert?

Szyrokoradiuk: Das ist für uns kein Thema. Im Vergleich war Tschernobyl eine viel größere und schrecklichere Katastrophe als der Gau in Fukushima heute.



KNA: Wie kümmert man sich heute um die rund 600.000 Liquidatoren, die die Aufräumarbeiten am strahlenden Reaktor vornahmen und ihn versiegelten? Werden sie angemessen entschädigt?

Szyrokoradiuk: Nach ukrainischem Recht müssten die Helfer von damals entschädigt werden. Aber der Staat hat kein Geld, und so bekommen auch die Liquidatoren sehr wenig. Man hat eher das Gefühl, die Retter von einst sind in Vergessenheit geraten.



KNA: Kann die Kirche helfen?

Szyrokoradiuk: Die Caritas hat viele soziale Zentren aufgebaut, um auch diese Menschen zu unterstützen. Wir haben Waisenhäuser, in denen Kinder leben, deren Eltern gestorben sind.



KNA: Tschernobyl ist mittlerweile für touristische Touren geöffnet. Was halten Sie davon?

Szyrokoradiuk: Das ist schlicht Geldmacherei, die nicht zum Umdenken führen wird. Sinnvoller ist ein Museum über die Katastrophe, wie wir es in Kiew haben. Dort können sich die Leute informieren. Aber Menschen für eine Attraktion der immer noch hohen Strahlung in Tschernobyl auszusetzen, ist verantwortungslos.