domradio.de: Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, heißt es. Woran liegt das?
Professor Dr. Steffen Mau (Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin): Wir haben eine stärkere Spreizung zwischen Einkommen von hochqualifizierten oder gut qualifizierten Beschäftigten und gering qualifizierten Beschäftigten. Wir haben zudem eine Veränderung unseres Steuersystems – seit den 1980er Jahren einen niedrigeren Spitzensteuersatz. Wir haben eine relativ geringe Besteuerung von Kapital- und Unternehmenseinkünften und wir haben natürlich auch Veränderungen in der Sozialstruktur. Wir haben eine stärkere Homogamie-Neigung, das heißt hochqualifizierte Männer heiraten hochqualifizierte Frauen und Geringqualifizierte heiraten Geringqualifizierte. Das führt auch durchaus zu einer Spreizung der Ungleichheit.
domradio.de: Es liegt also daran, wie qualifiziert man ist, ob man bei den Reichen oder bei den Armen landet?
Mau: Das ist relativ stark, aber heutzutage ist es auch so, dass eine gute akademische Bildung nicht zwingenderweise dazu führt, dass man sich gut auf dem Arbeitsmarkt platziert. Wir sehen gleichzeitig auch eine größere Einkommensspreizung innerhalb bestimmter Berufe. Wenn Sie zum Beispiel Jurist mit einem Prädikatsexamen sind, dann können Sie heute eine "Allerwelts-Kanzlei" aufmachen. Dann verdienen Sie relativ wenig Geld, manchmal sogar nah am Existenzminimum, wenn es nicht gut läuft. Sie können aber auch zu den absoluten Spitzenverdienern gehören, wenn Sie bei einer großen internationalen Wirtschaftskanzlei unterkommen. Diese unterschiedlichen Pfade haben durchaus auch etwas mit Glück und Gelegenheiten zu tun. Man könnte sagen, eine bestimmte Bildung oder ein bestimmter Qualifikationsgrad ist keine hinreichende Bedingung für eine berufliche Platzierung, sondern eine notwendige und dann muss noch etwas dazu kommen.
domradio.de: Die Beispiele einer Krankenschwester und eines Top-Managers liegen weit auseinander. Wo bleibt die Mittelschicht? Wie geht es der deutschen Mittelschicht?
Mau: Natürlich gibt es die Mittelschicht noch. Sie ist auch seit 2005 relativ stabil. Wir sehen tendenziell, vor allem im Vergleich mit den 1960er Jahren eine Schwächung dieser Einkommens-Mittelschicht. Wir sehen, dass die Einkommen in der Mitte den höheren Einkommen hinterherlaufen. Da gibt es durchaus eine größer werdende Lücke zwischen Spitzeneinkommen und mittleren Einkommen und zugleich fallen die unteren Einkommen zurück. Das ist genau das, was die Mittelschicht spürt: Die Spitzengruppen haben sich entfernt und sie hinken hinterher.
domradio.de: Arbeit und Einkommen stehen nicht mehr in Relation zueinander. Woran liegt das?
Mau: Man kann Leistung nicht so ohne Weiteres bemessen. Man kann fragen: Welchen ökonomischen Nutzen hat eine bestimmte Tätigkeit? Man kann natürlich auch nach dem gesellschaftlichen Nutzen gehen. Wir haben bestimmte Bereiche, wo sich ein sehr großer Niedrigeinkommens-Sektor entwickelt hat. Das bedeutet, es gibt sehr schlechte Tätigkeiten, die schlecht bezahlt sind, und es gibt geringe Berufsaussichten. Da sitzen viele Menschen in einer Sackgasse, aus der sie auch nicht so ohne Weiteres herauskommen. Beispiele sind hier die Dienstleistungstätigkeiten, wie das Ausfahren von Paketen oder das Auffüllen von Regalen. Im Bereich von einfachen Angestelltentätigkeiten haben wir durchaus auch eine Abwertung dieser Berufe. Es gibt zum Teil großen Lohndruck durch eine gestiegene Zahl der Beschäftigten. Gleichzeitig haben wir die höheren Einkommen, die sich davon entfernen. Für die Mittelschicht ergibt sich ein doppelter Druck: Einerseits Prekarisierungs-Risiken, das gilt vor allem für die untere Mittelschicht. Dann gibt es auch erhöhten Wettbewerb und Druck für die mittlere und die obere Mittelschicht, sich auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren, um nicht von den Spitzeneinkommensbeziehern abgehängt zu werden.
domradio.de: Es gibt Steuerpläne von den politischen Parteien. Welche dieser Steuerpläne würden der sozialen Gleichheit helfen?
Mau: Natürlich denke ich, dass man auch über höhere Spitzensteuersätze nachdenken muss. Man muss auch über eine steuerliche Entlastung geringerer und mittlerer Einkommen nachdenken. Man muss sicherlich Weichenstellungen für eine andere Besteuerung der Kapitaleinkünfte tätigen und zwar eine progressive Besteuerung – ähnlich wie bei der allgemeinen Einkommenssteuer. Wir sollten vielleicht nicht über eine Vermögenssteuer, aber über eine veränderte Besteuerung von Erbschaften nachdenken. Ich denke, die letzte Erbschaftssteuerreform war nicht ausreichend, um diese Ungleichheitsfrage zu adressieren.
domradio.de: Das Bündnis "Reichtum umverteilen" aus Verbänden und Gewerkschaften fordert aktuell, dass Reichtum gerechter verteilt wird. Gefordert werden unter anderem mehr Gelder für kommunale Kassen oder zum Beispiel für den sozialen Wohnungsbau. Ist das Teil der Lösung?
Mau: Die Wohnungsfrage ist akut geworden. Sie betrifft auch die Mittelschicht in den mittleren und großen Städten - und zwar sehr akut. Das hätte man sich vor 20 Jahren nicht vorstellen können. Viele Kommunen sind aus dem sozialen Wohnungsbau rausgegangen oder haben ihn dramatisch reduziert. Es ist schon die Frage, ob das nicht sinnvolle Felder wären, um wieder öffentlich tätig zu werden. Wir haben eine Situation, in der wir privaten Reichtum und öffentliche Armut gleichzeitig haben. Viele Kommunen können notwendige Investitionen nicht tätigen. Schauen Sie sich viele Bildungseinrichtungen an: Man sagt Bildungseinrichtungen sind ganz entscheidend, auch für die Vermittlung von Lebenschancen an Kinder. Ich glaube, dass das etwas ist, wo man sich politisch engagieren muss und wo der Schuh wirklich ein bisschen drückt.
Das Interview führte Jann-Jakob Loos.