UNHCR-Experte zur Flüchtlingslage

"Werden kein Wunder in Libyen bewirken"

Seit Anfang Juni ist Vincent Cochetel Sonderbeauftragter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR für die zentrale Mittelmeerroute. Im Interview spricht er über die Situation in libyschen Abschiebelagern und die möglichen Reaktionen der EU.

Afrikanische Flüchtlinge auf einem Rettungsschiff / © Lena Klimkeit (dpa)
Afrikanische Flüchtlinge auf einem Rettungsschiff / © Lena Klimkeit ( dpa )

KNA: Was sind Ihre Ziele als UNHCR-Sonderbeauftragter für die zentrale Mittelmeerroute?

Vincent Cochetel (Sonderbeauftragter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR für die zentrale Mittelmeerroute): Ich will besonders auf die Kohärenz der Politik achten. Es ist nicht ein einziges Projekt, dass die Dynamik auf der zentralen Mittelmeerroute ändern wird. Wir werden kein Wunder in Libyen bewirken. Deswegen sollten wir zwar mehr machen, aber unsere Kapazitäten nicht nur auf Libyen konzentrieren. Ich sehe mehr Potenzial für Lösungen in den südlichen Nachbarstaaten von Libyen. Wenn die Menschen in Libyen sind, ist es zu spät.

KNA: Sie haben vorgeschlagen, das Mandat des Militärs in der Sahel um den Kampf gegen Menschenhandel zu erweitern. Warum?

Cochetel: Illegaler Handel destabilisiert die Gemeinschaften in der Sahelzone. Er hat große Auswirkungen auf die Entwicklung. Jugendliche fühlen sich angezogen vom Geschäftsmodell des illegalen Handels. Vorher transportierten sie Güter, heute transportieren sie Menschen.

Sie sind mit der Zeit bezahlte Menschenschmuggler geworden. Sie bringen Zigaretten, Medizin, Drogen und Menschen nach Libyen und kommen zurück mit Waffen. Der illegale Handel ist zur Haupteinnahmequelle geworden. Das ist gefährlich und destabilisierend für die Region.

KNA: Wie ist die Situation in den Abschiebe-Gefängnissen in Libyen?

Cochetel: Die Menschen dort weinen und betteln darum, bei der Rückkehr in ihr Heimatland unterstützt zu werden. Ich glaube, dass wir uns dieses Problem auch in Italien und in anderen EU-Ländern anschauen müssen. Es ist eine Illusion, dass die in Italien abgewiesenen Asylbewerber eine Zukunft in der EU haben. Gesetze sind Gesetze. Wenn Menschen keinen internationalen Schutz benötigen, ist es schwierig ihren Status zu legalisieren. Die Lösung ist eine würdevolle Rückkehr in ihr Heimatland mit Unterstützung. Es gibt keine anderen Lösungen. Das ist die Realität.

KNA: Was können die EU-Länder machen, um Italien zu entlasten?

Cochetel: Erstens muss die EU klären, was mit den Ländern passiert, die keine Solidarität mit Italien und Griechenland zeigen. Zweitens muss Italien die Asylanträge schneller bearbeiten. Es muss besser gefiltert werden, welche Asylanträge keine Aussicht auf Erfolg haben und welche Fälle genauer angeschaut werden müssen. Und dann müssen mehr abgewiesene Asylbewerber zurück in ihr Heimatland gebracht werden.

Darüber hinaus muss die EU den Umsiedlungsmechanismus überarbeiten. Derzeit können nur Asylbewerber in andere EU-Staaten umgesiedelt werden, die eine durchschnittliche Asyl-Anerkennungsrate in der EU über 75 Prozent haben, wie etwa Eritreer. Es kommen aber immer weniger Eritreer in Italien an. Deshalb schlage ich vor, dass Flüchtlinge umgesiedelt werden, die bereits anerkannt sind.

KNA: Die EU hat am Dienstag vorgeschlagen, die Neuansiedlung aus Ländern wie Libyen, Ägypten, Niger, Äthiopien und dem Sudan zu fördern. Was halten sie von der Idee?

Cochetel: Ich denke, es ist eine gute Idee, aber wir müssen aus Libyens Nachbarländern umsiedeln. Wenn wir aus Libyen umsiedeln, füttern wir weiter die Industrie des Menschenhandels. Wir schlagen Umsiedlungen aus Burkina Faso, Niger, Mali und dem Sudan vor.

KNA: Welche Rolle spielt Religion für die Migranten auf der zentralen Mittelmeerroute?

Cochetel: In den Abschiebelagern sehe ich viele Menschen, die beten. Es ist wie eine Quelle für sie. Viele haben alles verloren, aber nicht ihre Würde, ihren Glauben und ihre Identität. Die Menschen sind extrem belastbar. Diese Belastbarkeit ziehen sie teilweise aus ihrer Religion. Von daher sollten wir bei unseren Lösungen darauf bauen. Sie sind nicht nur Menschen, die um Hilfe flehen, sondern auch Menschen mit Fähigkeiten und Wissen. Wir sollten das nutzen.

KNA: 1998 wurden sie als Leiter des UN-Flüchtlingshilfswerks in Nordossetien entführt. Nach 317 Tagen wurden sie befreit. Was treibt sie heute bei ihrer Arbeit für den UNHCR an?

Cochetel: Wenn ich Menschen in Abschiebehaft in Libyen treffe, kann ich mir ein bisschen vorstellen, wie sie leiden. Ich kenne physische Gewalt und was es bedeutet, für eine unbegrenzte Zeit eingesperrt zu sein. Aber ich weiß nicht, wie es ist, seine Familie in einem Krieg zu verlieren oder aus seiner Heimat vor Verfolgung zu fliehen.

Das Interview führte Franziska Broich.


Quelle:
KNA