Uni Tübingen gründet Forschungsstelle zum Dritten Weg

"Der Diskurs muss öffentlicher werden"

An der Universität Tübingen ist eine Forschungsstelle für kirchliches Arbeitsrecht gegründet worden. Der sogenannte Dritte Weg steht in der Kritik von Gewerkschaften. Im Interview erläutert der Jurist Hermann Reichold am Dienstag, was Aufgaben und Ziele der Forschungsstelle sind.

 (DR)

KNA: Herr Professor Reichold, was war der Anlass zur Gründung einer Forschungsstelle, die sich allein mit dem kircheneigenen Arbeitsrecht befasst?

Reichold: Es gab und gibt polemische Debatten und heftige Kontroversen über die Kirchen als nach dem Staat größter deutscher Arbeitgeber - bis in den Bundestag hinein. Das Diktum lautet oft: Bei den Kirchen bestehen Arbeitsverhältnisse zweiter Klasse. Auch fragen sich immer mehr Arbeitnehmer, ob sie in der Kirche, polemisch formuliert, besonders prekären Bedingungen ausgesetzt sind. Wir gehen der Frage nach, ob das stimmt.



Das bundesweit Besondere ist, dass wir uns als Forschungsstelle völlig interessenunabhängig und ohne konfessionelle Enge um eine normative und empirische Analyse der Rechtstatsachen bemühen. Schon diese Feststellung ist schwierig genug: Vieles ist kleinteilig bei Diözesen, Landeskirchen oder karitativen Einrichtungen festgelegt.



KNA: Was sind die Grundlagen des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland?

Reichold: Die aus der Weimarer Reichsverfassung ins Grundgesetz übernommenen Kirchenartikel. Hinzu kommt der Artikel 4, in dem es auch um die korporative Freiheit von Religionsgemeinschaften geht. Daraus wird - nicht zwingend, aber historisch gewachsen - eine Rechtssetzungsbefugnis für die Kirchen abgeleitet, ihre Arbeitsverhältnisse selbstständig zu regeln. Das ist der sogenannte Dritte Weg. Dabei klären Dienstgeber und Dienstnehmer in paritätisch besetzten Kommissionen eigenständig die Arbeitsbedingungen. Die DGB-Gewerkschaften wollen diese Situation nicht akzeptieren. Aus ihrer Sicht besteht der Verdacht, dass die traditionell hierarchischen kirchlichen Strukturen dazu führen, dass Arbeitnehmerbelange im Zweifel doch weniger berücksichtig werden.



KNA: Was genau wollen Sie konkret untersuchen?

Reichold: Diesen Dritten Weg. Es geht uns nicht um das innerkirchliche Dienstrecht von katholischen Priestern oder evangelischen Pfarrern, sondern um normale privatrechtliche Arbeitsverhältnisse mit kirchlichen Institutionen: Wie schaut eine Arbeitsrechtliche Kommission genau aus, wie ist sie besetzt? Funktioniert dieses alternative System der Arbeitnehmermitbestimmung? Wo sind prägende Unterschiede auszumachen, etwa zwischen der katholischen Kirche mit ihrem gewerkschaftsfeindlichen, aber trotzdem in sich stimmigen Mitarbeitervertretungsmodell einerseits und der evangelischen Kirche andererseits, wo Gewerkschaften teilweise in den Gremien präsent sind? Und welche Bedeutung hat die kircheneigene Gerichtsbarkeit, die Mitarbeitervertretungsstreitigkeiten klärt?



KNA: Trotzdem spielen auch weltliche Gerichte eine Rolle.

Reichold: Ja, die individuelle Klage etwa wegen Lohndumping, Ausbeutung und Kündigung beispielsweise findet dort statt. In diesem Zusammenhang müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass der einzelne Arbeitsrichter oft keine genauen Kenntnisse davon hat, welche besonderen Loyalitätsverpflichtungen von Rechts wegen eine Kirche verlangen darf. Bei der Vermittlung von kirchlichen arbeitsrechtlichen Maßstäben gibt es also einiges zu tun. Derzeit besteht eine erhebliche Rechtsunsicherheit. Besonders sensibel ist bei rechtlichen Auseinandersetzungen im katholischen Bereich das Thema Ehebruch oder Wiederverheiratung.



KNA: Zuletzt entwickelte sich durch Urteile aus Straßburg auch eine europäische Dimension dieser Frage. Es gibt abgestufte Loyalitätsmaßstäbe. Für einen Bischof gilt etwas anderes als für eine Reinigungskraft in einem kirchlichen Heim.

Reichold: Eindeutig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat eine ganze Serie von Entscheidungen getroffen. Weitere Fälle stehen an. Ein katholischer Kantor bekam in Straßburg Recht, weil die deutschen Arbeitsgerichte zu einseitig der kirchlichen Argumentation gefolgt waren. Diese offenere Abwägung aus Straßburg imponiert uns, weil die Kirchen sich einen kritischen Blick auf ihre vielleicht überzogenen Erwartungen gefallen lassen müssen.



KNA: Wie viele Menschen sind überhaupt betroffen?

Reichold: Eine schwierige Frage. Man schätzt, dass etwa 1,3 Millionen Dienstnehmer von der Kirche und ihren Einrichtungen beschäftigt werden. Die Zahl der so genannten Tendenzträger, also der Protagonisten der Verkündigung, ist demgegenüber verhältnismäßig gering. Aber wie sieht es mit Verantwortungsträgern von Caritas oder Diakonie aus? Was darf von wem erwartet werden? Die katholische Kirche schränkt die private Lebensführung besonders stark ein. Und es ist eine Debatte wert, ob ein Chefarzt allein deshalb gekündigt werden darf, weil er sich mit einer neuen Partnerin zusammen getan hat. Notwendig ist nach unserer Ansicht ein sensibler und flexibler Umgang mit Privatangelegenheiten.



KNA: Bis wann will die Forschungsstelle erste Ergebnisse ihrer Arbeit vorlegen?

Reichold: Schon jetzt publizieren wir in verschiedenen Fachzeitschriften. Zudem bieten wir Tagungen und Kongresse an. Der Diskurs über diese Fragen muss öffentlicher werden und darf nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden.



KNA: Kann der päpstliche Ruf nach Entweltlichung auch bedeuten, auf ein eigenes Arbeitsrecht zu verzichten?

Reichold: Nach der Freiburger Rede von Papst Benedikt XVI. bei seinem Deutschlandbesuch im September kann tatsächlich der Eindruck entstehen, dass ein so stark verweltlichtes kirchliches Arbeitsrecht vielleicht nicht erwünscht ist. Auch eine Klärung dieses Punktes ist wichtig bei der Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Dritten Weges.



Das Interview führte Michael Jacquemain.



Hintergrund

Der Staat hat den Kirchen in Deutschland das Recht eingeräumt, ein eigenes System des Arbeits- und Tarifrechts zu schaffen. Hintergrund ist die Auffassung, dass Arbeit im kirchlichen und karitativen Dienst eine religiöse Dimension hat. Es gilt das Prinzip der Dienstgemeinschaft, wonach alle in der Kirche Tätigen gleichen Anteil am religiösen Auftrag der Kirche haben.



Beim sogenannten Dritten Weg handelt es sich um eine konsensorientierte Suche nach einem Interessenausgleich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Bereich der Kirchen. Das Betriebsverfassungsgesetz und die Möglichkeiten von Streiks und Aussperrung gelten für die Kirchen nicht. Alle Fragen des Tarifrechts werden durch paritätisch aus Dienstgebern und Dienstnehmern besetzte Kommissionen geregelt. Gewerkschaften wie ver.di und der Marburger Bund kämpfen für ein Streikrecht in kirchlichen Einrichtungen.