domradio.de: Was erzählen Ihre Kollegen in Syrien über die schlimmsten Orte der Welt für Kinder?
Ninja Charbonneau (Sprecherin von UNICEF Deutschland): Es ist wirklich ein Panorama der Gewalt, über das meine Kolleginnen und Kollegen berichten. UNICEF konnte im vergangenen Jahr allein 1.500 schwerste Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder dokumentieren, und wir müssen davon ausgehen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist, weil der Zugang gar nicht überall möglich ist und die Informationen nicht immer verifiziert werden können. Das bedeutet, diese 1.500 Fälle sind nur diejenigen, die dokumentiert und überprüft werden konnten. Das reicht von Angriffen auf Schulen und dicht besiedelte Wohngebiete bis hin zur Rekrutierung von Kindersoldaten, sexueller Gewalt und Folter. Das Bild, das hier gezeichnet wird, ist wirklich sehr, sehr düster.
domradio.de: Jedes dritte Kind, das in Syrien aufwächst, kennt nur ein Leben im Krieg. Was kann UNICEF überhaupt tun, damit diese Mädchen und Jungen vielleicht wieder ein Stück Kindheit zurückbekommen?
Charbonneau: Trotz allem sehr, sehr viel. Wir sind zum einen in Syrien selbst aktiv, zum anderen auch in den Nachbarländern um Syrien herum, wo sich die meisten Menschen aufhalten, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Die Hälfte von ihnen sind Kinder. Wir haben in Syrien ein Schulnetzwerk, das wir mit 600 Schulclubs unterstützen, die es auch inmitten der Gewalt ermöglichen, dass Kinder weiterlernen können. Zum Beispiel auch in Form eines Selbstlernkurses, den sie zu Hause unter Anleitung eines Erwachsenen machen können, wenn es zu gefährlich ist, in die Schule zu gehen oder wenn ihre Schule zerstört ist. In den Nachbarländern haben wir in den Flüchtlingscamps Schulen eingerichtet, haben aber auch in den vielen Städten, in denen sehr viele Flüchtlingskinder sind, in Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden daran gearbeitet, dass die syrischen Kinder die Regelschulen besuchen können. Das läuft zum Teil im Schichtbetrieb ab, weil einfach zu wenige Plätze da sind. Aber wir arbeiten daran, um dieses System noch weiter zu verbessern und brauchen dafür natürlich noch mehr Spenden.
domradio.de: Es ist aber nicht nur so, dass Kinder die Folgen des Krieges mit ansehen müssen. Viele werden auch als Kindersoldaten rekrutiert. Von welchen weiteren Menschenrechtsverletzungen gegen Kinder berichtet Ihr Report?
Charbonneau: Es ist wirklich sehr besorgniserregend, was die Kindersoldaten angeht. Denn wir haben seit Beginn des Konfliktes immer wieder Berichte von Kindern gehört, die rekrutiert wurden. Kinder im Sinne der UN, also Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Zu Beginn des Konflikts wurden aus dieser Altersgruppe eher die Älteren rekrutiert, die 15-17-jährigen. Die haben zunächst auch eher unterstützende Rollen ausgeführt, wie beispielsweise Wasserträger oder Koch. Jetzt beobachten meine Kolleginnen und Kollegen und die Organisationen, mit denen sie zusammenarbeiten, mehr und mehr, dass die Kinder immer jünger werden. Manche Kinder sind erst sieben Jahre alt und werden auch immer häufiger für Kampfhandlungen eingesetzt. Sie werden - falls man es überhaupt so nennen kann - trainiert. Sie werden ausgebildet, eine Waffe zu benutzen und werden sogar zu Exekutionen eingesetzt. Die Brutalität hat noch einmal ordentlich zugenommen.
domradio.de: Was fordern Sie anlässlich des fünften Jahrestages für Kinder in Syrien von der Politik?
Charbonneau: Wir schauen natürlich mit großer Spannung nach Genf, wo die Friedensverhandlungen in die nächste Runde gehen sollen. Es ist völlig klar, dass das sehr schwierig werden wird. Da sind keine schnellen Lösungen zu erwarten. Aber wir fordern, dass die Kinder geschützt sein müssen. Es darf nicht sein, so wie in letztem Jahr, dass Kinder in der Schule, auf dem Schulweg getötet werden. Also dort, wo sie eigentlich sicher sein sollen. Angriffe auf Schulen und dicht besiedelte Wohngebiete und Rekrutierungen müssen sofort aufhören. Ganz wichtig ist auch der Zugang für humanitäre Hilfe, vor allem auch zu den belagerten Städten. Dieser muss ohne Einschränkung gewährleistet sein und ohne dass man es ständig wieder für jeden einzelnen Ort und jede einzelne Lieferung beantragen muss. Wir brauchen auch mehr Investitionen in Bildung, gerade in Schulprojekte und psychosoziale Hilfe für die Kinder.
Das Interview führte Tobias Fricke.