Weißer Rauch weht aus dem Museum Fridericianum – dem Herzstück der Documenta. Tag und Nacht qualmt es oben aus dem Dach. "Expiration Movement" heißt die Arbeit von Daniel Knorr. Sie erinnert an den weißen Rauch, der bei jeder Papstwahl aus der sixtinischen Kapelle im Vatikan aufsteigt. "Habemus documenta", mit diesem Zitat greift die Sprecherin der 14. Documenta Henriette Gallus das Original des Vatikan auf. "Die Frage nach dem Sinn – darum geht es auf der Documenta und darum geht es auch in der Religion", sagt sie, "vielleicht sind die Antworten, die man findet nicht die gleichen. Aber es zeigt, dass wir uns im Augenblick alle die gleichen Fragen stellen". Die weltweite Flüchtlingskrise, die soziale Ungerechtigkeit, die Klimakatastrophe, das sind die Fragen, die bei Papst Franziskus ganz oben auf der Agenda stehen und die auch auf der 14. Documenta einen Schwerpunkt bilden. Es sei im Vorfeld gar nicht nötig gewesen, mit den Künstlern darüber zu sprechen, dass diese Fragen das Thema der Documenta sein sollen, sagt Gallus: "Diese Themen haben sich so ergeben, weil das die künstlerischen Positionen waren". Und den Papst, den würde man gern auf der Documenta begrüßen, sagt sie und lobt seine Offenheit: "Franziskus würde die künstlerischen Positionen sehr zu schätzen wissen", vermutet Gallus.
Was ist Realität? Und welche Rolle spielt Transzendenz?
"Der Papst hat ein Gespür für die Themen, die uns bewegen", sagt auch Christoph Baumanns. Er arbeitet für das Bistum Fulda an der Schnittstelle zwischen Documenta und Katholischer Kirche. Eine so entschiedene, politische Kunst zu erleben, die mutig Position bezieht, begeistert ihn. Das Kreative bekomme hier einen ganz neuen Stellenwert. Und dann schaut auch er nach oben und zeigt auf den weißen Rauch der aus dem Fridericianum weht. "Wir haben so eine breit gefächerte Bilder-, Symbol- und Geschichtenwelt in der Kirche, dass alle daran gern anknüpfen", sagt Baumanns. Er ist für das Bistum Fulda mitverantwortlich für die Installation in der katholischen Elisabethkirche, die parallel zur Documenta gezeigt wird. "Statik der Resonanz" heißt das Werk der Berliner Künstlerin Anne Gathmann. Es besteht aus 4000 Aluminiumstiften, die ein 43 Meter langes Band bilden und in Form einer frei schwingenden Kurve im Kirchenschiff hängen. "Der Bogen, der mitten durch die Kirche gezeichnet ist, verbindet uns im Kirchenraum mit dem Raum, der über uns ist, und den wir durch dieses Band ganz anders mit in den Blick nehmen", erklärt Baumanns. Die Form und der Raum, den wir wahrnehmen, sei immer nur ein Ausschnitt, sagt auch die Künstlerin Anne Gathmann. In ihren Werken beschäftigt sie sich mit den Fragen, wie Realität beschaffen ist und wo sie stattfindet. Sie erzählt, dass es ihr viel Freude gemacht habe, ein Kunstwerk für einen sakralen Raum zu entwerfen. "In Kirchenräumen werden grundsätzliche Fragen gestellt, die mich auch in meinen Kunstwerken beschäftigen", sagt sie, "Was kann Transzendenz sein? Wie sieht die Dimension des Spirituellen im Menschlichen aus?"
Ein Leuchtturm für Flüchtlinge
Die 14. Documenta verbindet Welten, sie schlägt eine Brücke nach Griechenland – der weiße Rauch ist ein Gruß in den Süden. Wir leben in einer globalen Welt, und wir können die momentanen Probleme nur gemeinsam lösen, das ist eine Botschaft der weltgrößten Ausstellung für zeitgenössische Kunst. Auf der evangelischen Karlskirche blinkt ein helles Licht. Der Künstler Thomas Kilpper hat den Kirchturm zu einem Leuchtturm umgebaut. "Leuchtturm für Lampedusa" heißt sein Objekt. Der Turm ist von Resten aus Flüchtlingsbooten umflochten und soll Signale in die Welt senden. "Lempedusa ist here" steht darauf geschrieben. "Thomas Kilpper plant auf Lampedusa auch einen ganz realen Leuchtturm zu errichten", erzählt Pfarrerin Eveline Valtink von der evangelischen Kirche in Kurhessen-Waldeck. Sie betreut die Ausstellung "Luther und die Avantgarde" in der Karlskirche und erzählt uns von diesem Leuchtturm, für den die Pläne schon vorliegen: "Wo die Flüchtlingsboote aus dem Osten anbranden, soll dieser Leuchtturm stehen. Im Leuchtturm soll es auch ein Begegnungszentrum geben, wo Flüchtlinge und Einheimische sich begegnen". Diese Documenta sei eine sehr politische Documenta, sagt Pfarrerin Valtink: "Was wir parallel zur Documenta als evangelische Kirche zeigen, schließt sich diesen Impulsen an, denn auch wir zeigen, wie uns das Schicksal der Ärmsten auf den Leib rückt. Wir haben eine globale Verantwortung".
Heiße und verbotene Bücher
Dafür steht auch das Buch der Bücher, die Bibel. In der Bergpredigt fordert Jesus uns zur Solidarität mit den Armen auf. Aber wie alle religiösen Bücher ist auch das Alte und Neue Testament ein heißes Buch. In der Karlskirche liegt auf einem Gestell das "heat book" direkt vor dem Altar. Wenn man dem aufgeschlagenen Metallbuch nahetritt, verspürt man einen Hitzestrom. Es ist heiß wie eine Herdplatte. "Bücher können richtig heiß werden", erklärt Pfarrerin Valtink, "gerade religiöse Bücher können mit politischen Interessen aufgeladen und die Botschaft kann massiv missbraucht werden". Bücher haben Kraft, Energie – sie sind ambivalent, sie erregen die Gemüter und fordern uns heraus. Auf dem großen Ausstellungsgelände im Herzen der 14. Documenta steht der Parthenon der verbotenen Bücher. Über 50 000 Bücher bilden hier den griechischen Tempel in Originalgröße nach. Alle waren oder sind verboten. Da hängt das Neue Testament direkt neben dem kommunistischen Manifest des bekennenden Atheisten Karl Marx. Ist das Zufall oder Absicht? "Da sind sie auf etwas gestoßen, was kein Zufall ist", sagt die Documenta Sprecherin Henriette Gallus, "Diese beiden Titel nebeneinander zeigen doch, wie absurd Zensur ist". Und dann spazieren wir weiter durch den Parthenon der verbotenen Bücher und in die Ausstellungen. Henriette Gallus empfiehlt das Spazieren, schließlich seien die Spaziergangswissenschaften einst in Kassel von Lucius Burckhardt erfunden worden, sagt sie, und so solle man sich doch einfach ohne Ziel durch die Documenta treiben lassen. "Es geht darum, ergebnissoffen aus den Ausstellungen zu kommen und nicht Erwartungen, die man hatte, bestätigt zu sehen", wünscht sich Gallus, "man soll hier Erfahrungen machen, die – wenn wir Glück haben – uns ändern oder unseren Blick auf die Welt ändern". Damit knüpfe die 14. Documenta an das an, was die erste Documenta 1955 gewollt habe, nämlich ein Instrument des Wandels zu sein und nicht nur eine Kunstausstellung.